Behördlicher Irrglaube an die papierene Landessicherheit

Behördlicher Irrglaube an die papierene Landessicherheit

Der Bundesrat beauftragte am 1. Mai 2013 das VBS, bis Ende 2014 einen neuen Bericht über die schweizerische Sicherheitspolitik auszuarbeiten. Er will erstens «einen starken Fokus auf die Analyse der Bedrohungen und Gefahren für die Schweiz legen.» Zweitens sollen «die Möglichkeiten und Grenzen der sicherheitspolitischen Kooperation mit dem europäischen Umfeld» aufgezeigt werden.
Heinrich L. Wirz, Oberst a D – Quelle: AUNS Bulletin Juli 2013, Seite 10f

Der letzte Bericht stamme aus dem Jahr 2010. Zweck dieser Berichte sei es, das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz zu untersuchen sowie die mittel- bis längerfristige Ausrichtung der Schweizer Sicherheitspolitik festzulegen. Das Parlament habe beim Bericht 2010 gefordert, den Rhythmus zu beschleunigen, und der Bundesrat habe in Aussicht gestellt, «künftig in jeder Legislatur einen solchen Bericht vorzulegen». Zudem wird auf ein Postulat der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerates aus dem Jahre 2011 verwiesen. Die Landesregierung beantragte die Annnahme des Postulates, in dem von Sicherheitsproduktion im europäischen Rahmen, von der Entwicklungsrichtung der Neutralitätspolitik sowie von der weitergehenden Kooperation die Rede ist, zum Beispiel Teilnahme an «Battle Groups» und Ausbau der Partnerschaft für den Frieden (PfP). Schon im kommenden Herbst will das VBS sicherheitspolitische Fachleute aus dem In- und Ausland anhören. Danach werde der Bericht «in interdepartementaler Zusammenarbeit verfasst», 2014 in eine öffentliche Vernehmlassung gegeben und bis Ende Jahr dem Parlament unterbreitet werden. Wichtig für das VBS sei es, wie beim Bericht 2010 «die Kantone eng in die Arbeiten einzubeziehen».
Überflüssiger Leerlauf
Der Bundesrat erweckt den Eindruck, den Überblick über alle seine die Landessicherheit betreffenden Berichte verloren zu haben. Sein Entscheid, den zahlreichen Papieren über Sicherheitspolitik (2010), Armee (2010; Zusatzberichte 2011), Bevölkerungsschutz / Zivilschutz (2012), Nachrichtendienst (Sicherheit Schweiz – Lagebericht 2013) usw. bereits 2014 ein weiteres umfängliches Papier anzureihen, ist völlig unnötig und nutzlos. Warum? Erstens hat die im Bericht 2010 beschriebene Bedrohungslage nicht grundlegend geändert. Man studiere doch erneut die 750 Seiten Dokumentation der Anhörungen (Hearings) aller beteiligten Gruppierungen von 2010! Eine wiederholte, derartig zeit- und kostenintensive Runde wäre praktisch nutzlos oder nur für beschäftigungstherapeutischen Scheinaktivismus. Zweitens: Liest man die Begründungen für einen neuen Sicherheitsbericht und das erwähnte Postulat – Entwicklung der Neutralitätspolitik? «Battle Groups»? PfP? – auch zwischen den Zeilen, so kommt die schleichende Hinterabsicht militärischer Zusammenarbeit mit zumindest dem europäischen Ausland zum Vorschein. Dies wäre mit der in der Bundesverfassung verankerten Unabhängigkeit und Neutralität unseres Landes unvereinbar.

Drittens dringen dieser Tage schockierende Einzelheiten über den militärischen Kahlschlag mittels der sogenannten Weiterentwicklung der Armee (WEA) an die Öffentlichkeit. Dieser verantwortungslose und verfassungswidrige Abbau an personellen und materiellen Mitteln ist rein finanzgetrieben und auch das Ergebnis des Schlagabtausches über das Armeebudget zwischen Parlament und Bundesrat. Soll die Schweiz mangels eigener Verteidigungsbereitschaft und Fähigkeit in ein Militärbündnis getrieben werden? Viertens ist ein parlamentarischer Beschluss über das Rüstungsprogramm 2012 – Tiger-Teilersatz mit 22 JAS 39 E Gripen – überfällig. Dazu braucht es keinen neuen Sicherheitsbericht, es sei denn, man wolle die schweizerische Lufthoheit an das Ausland abtreten. Fünftens richtet sich das bundesrätliche Vorhaben gegen die Milizarmee. Diese wurde in der Folge sicherheitspolitischer Berichte innert 20 Jahren drei organisatorischen Rosskuren unterworfen, die letztlich die Armee XXI zum Planungsschrott verkommen liessen. Um die wichtigsten Mängel zu beheben – Führungsorganisation und Bereitschaft, Ausbildung und Aus- rüstung –, braucht es keinen neuen Sicherheitsbericht. Der Glaube, mit Papieren Sicherheit zu schaffen, ist ein totaler Trugschluss. Diagnose: zunehmende strategische Schwarmdemenz der Bundesbehörden.

HenryWirzHeinrich L. Wirz, Oberst a D
letzte Einteilung im Stab Operative Schulung
Militärpublizist SFJ/BR
Verfasser militärpolitisch/-historischer Publikationen

 

Kommentare: 9

  1. Fritz Kälin sagt:

    Eine Beteiligung an den EU-Battlegroups wäre eine nicht zu überbietende Dummheit. Ich möchte hier möglichst knapp und deutlich darlegen, weshalb man sich Gedankenspiele in diese Richtung zum vornherein sparen kann.
    Die europäische ‘sicherheitspolitische Kooperation’, u.a. in Gestalt der EU-Battlegroups, suggeriert eine Nutzung von ‘Synergien’. Tatsächlich führt sie dazu, dass jedes Partnerland seine eigenen Streitkräfte à discrétion zusammenspart, weil es glaubt, im Ernstfall ja auf die Truppen seiner Partner zählen zu können. Nur, dass die Partnerstaaten genau derselben, bequemen Logik folgen. Solange sich nur kleinere/ vereinzelte/ lokal begrenzte Krisen ereignen, kann Europa theoretisch aus den über 20 Nationalarmeen eine einigermassen ausreichend grosse Streitmacht zusammenkratzen. Sobald aber mehrere Staaten gleichzeitig bedroht sind, fehlt es überall an allem. Hinzu kommt, dass der grosse amerikanische Bruder schon in zehn Jahren kaum mehr bereit ist, die klaffenden Lücken in Europas Militärdispositiv zu stopfen.
    Die Schweiz sollte sich hüten, bei der eigenen Armee zu sparen und den kläglichen Rest auch noch dem ‘Battlegroup-Pool’ zur Verfügung zu stellen. Dies wird dazu führen, dass wir militärisch am nächstbesten ‘Wiederaufbaukrieg des Westens’ teilnehmen, aber im eigenen Land kaum noch militärische Kapazitäten haben. Dabei ist und bleibt die Armee bei uns die einzige strategische Reserve.
    Kam in Mali eine Battlegroup zum Einsatz? Nein, Frankreich handelte allein. Seine Verbündeten begnügten sich höchstens beim Anbieten von Transportflugzeugen gegenseitig. Auch im Lybien-Einsatz wurden wichtige militärische Handlungen (Bewaffnung der Stämme im südwestlichen Gebirge, um eine 2. Front zu eröffnen) von Sarkozy (wohlweislich) ohne Rücksprache mit den Verbündeten vollzogen. Der ‘Geist der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit’ ist in der Tat nur ein Geist. Sicherheitspolitik sollte sich aber nicht auf Gespensterglauben abstützen.
    Dass eine Battlegroupbeteiligung das Ende unserer Neutralität bedeuten würde, muss hier nicht näher ausgeführt werden.
    Es sei an zwei Beispiele der jüngeren und jüngsten Geschichte erinnert: Georgien hatte 2008 die beste seiner vier Brigaden im Irak, als Russland die innergeorgischen Konflikte für seine Zwecke instrumentalisierte. Schweden steht mit seinen Soldaten am Hindukusch, während sich in den schwedischen Vorstädten aus einer gescheiterten Integration der muslimischen Einwanderer ein sicherheitspolitische Bedrohung entwickelt hat. Auch im 21. Jahrhundert beginnt der Einsatz für den Frieden zuerst immer im eigenen Land.
    Die Schweiz kann sicherheitspolitisch einen weitaus sicheren Weg beschreiten. Dazu muss man aber endlich die seit 1989 entstandenen Denkdogmata überwinden.

  2. Franz Betschon sagt:

    Dem Autor, Henry Wirz, ist voll zu zu stimmen. Das Vorhaben zeigt die Ratlosigkeit der Verantwortlichen, die nun mit Geschäftigkeit darüber hinweg täuschen wollen. Es ist so: Es gibt keine neue sicherheitspolitische Lage, die nicht schon seit Jahren bekannt wäre! Nur sind ebenfalls seit Jahren die Schlussfolgerungen für den militärischen Teil der Sicherheitspolitik nicht gezogen worden, die gefährlichsten Feindmöglichkeiten, nach denen sich jede Planung zu richten hat, ist so definiert worden, dass sie den eigenen Wünschen entspricht.
    Kommt hinzu, dass niemand, nicht einmal das VBS, genau weiss, in welchem Zustand sich die Armee genau befindet. Es sind zuviele widersprüchliche Behauptungen im Raum stehen gelassen worden. Das VBS weigert sich hartnäckig, eine Generalinspektion durchzuführen, es sei denn es könne diese selber machen oder sich von Beratungsfirmen ein Gefälligkeitsgutachten erstellen zu lassen.
    Der ganze Vorgang zeigt: Irgendjemand erpresst das VBS und hält dieses an, auf Zeit zu spielen. Mit jedem neuen Bericht geht wieder Zeit verloren, die Armee oder das was heute noch übrig geblieben ist, wird weiter marginalisiert. Am Ende bleibt dann wahrscheinlich die gemeinsam geteilte Auffassung: Dumm gelaufen, das haben wir nicht gewollt!

  3. Rosa Roth sagt:

    Mich trifft vor allem der letzte Abschnitt Ihres Votums Herr Betschon. Schon lange sind wir privat am Diskutieren, wem es dient, dass die Schweiz so vorgeht, wie sie es tut und warum….gibt es da irgendwo doch eine Zentrale, die im Verborgenen steuert? Ich stehe mit den Füssen auf dem Boden, aber wenn SIE als Kapazität schon sagen, irgendjemand erpresse das VBS, dann kann man die Ueberlegungen weiter ausdehnen und zwar auf alle Departemente, denn die masochistische Auflösung ist ja offensichtlich – – – (?)

  4. Walter G u l e r sagt:

    Behördlicher Irrglaube an die papierene Landessicherheit:
    Hinzu kommt, dass der grosse amerikanische Bruder schon in zehn Jahren kaum mehr bereit ist, die klaffenden Lücken in Europas Militärdispositiv zu stopfen.
    meint Fritz Kälin 31. Juli 2013 at 19:32
    Ich glaube der Glauben an den «grossen amerikanische Bruder» ist schon kurz nach 1945 von wachen Schweizer Zeitgenossen zu Recht verloren gegangen. Angriffskriege seitdem ohne Zahl, meist mit hinterhältigen, massiven Lügen zeugen von der «Zuverlässigkeit» dieses «grossen Bruders»

  5. Willy P. Stelzer sagt:

    Der Kommentar von Franz Betschon trifft voll ins Schwarze. Giardino ist längstens der Ansicht, dass eine “Hidden Agenda” besteht, oder auf deutsch “Der kalte Staatsstreich ist im Gange”. Wer sich wirklich informieren will was abläuft und was endlich zu unternehmen ist – damit die Armee unser Land gemäss Bundesverfassung, Artikel 58, wieder verteidigen kann – nehme sich die Mühe das Buch “Mut zur Kursänderung” (Eikos-Verlag) zu lesen. Und bestelle das Buch “Erinnerungen an die Armee 61”, zweite Auflage, Herausgeber Franz Betschon. In diesem Buch wird unter anderem die ausgezeichnete schweizerische Mobilmachungs-Organisation beschrieben. Das Flughafen Regiment Kloten war, als Beispiel, innert drei Stunden (!) einsatzbereit. Die AIDA Formationen (z.B. Panzer Regimenter) nach 24 Stunden. Ich bin Zeitzeuge und habe solche Mobilmachungs-Uebungen als Kp Kdt und Bat Kdt mitgemacht. Es hat funktioniert – in der Armee 61.

    • Ueli Gruber sagt:

      @Willy P. Stelzer:
      Bitte bleiben Sie präzise: Die Mobilmachungs ÜBUNG hat in der A 61 funktioniert. Ob die MOBILMACHUNG funktioniert hätte, weiss niemand, da es glücklicherweise nie dazu kam. Beim mob mässigen Einrücken im WK wusste ja jeder AdA im Voraus, wenn das Einrückungsdatum war (WK Tableau, MBK) und konnte seine berufliche und familiäre Situation darauf abstimmen. Auch AMP und Zeughaus war entsprechend über Monate vorinformiert und vorbereitet. Eine Mobilmachung aus dem Stand heraus hat auch in der A 61 nie wirklich stattgefunden.
      Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will keinesfalls sagen, dass das alles nichts wert war und es das heute nicht bitter notwendig brauchen müsste. Ich will einfach davor warnen, das alles in verklärter Sicht nach dem folgenden Motto zu sehen: “Früher war alles besser!”.

  6. Willy P. Stelzer sagt:

    Herr Ueli Gruber: Ich habe keinesfalls eine verklärte Sicht. Auch die Armee 61 hatte ihre Mängel welche zu korrigieren waren. Als Beispiel nenne ich den “mechanisierten Flabschutz”. Bis heute existiert dieser nicht, so wenig wie heute der Panzer Bataillons Kommandant über seine kleine Artillerie, die Panzer Minenwerfer, verfügt. Die Fachoffiziers-Gesellschaft SOMLT, ab 1977 SGOMMT, hatte eine Arbeitsgruppe gebildet, welche sich des Problems mech Flabschutz annahm. Statt den Flabpanzer GEPARD hat man das System RAPIER beschafft. In der Annahme, man könne dieses auf Radfahrzeugen montierte System vorab in die Gegenschlagsräume der Panzer Bataillone verlegen. – Haben Sie das Buch “Mut zur Kursänderung” gekauft und vor allem gelesen? Warum ich dies frage? Vor einigen Wochen habe ich das Buch Nationalrat Hans Grunder geschenkt. Er hat mir am 6. September bestätigt, dass er das Dokument bis heute noch nicht gelesen. Keine Pflichtlektüre für Parlamentarier; wir sind ja von lauter Freunden umgeben. Verständlich, das Thema GASTRO und Mehrwertsteuer ist wichtiger.

    • Ueli Gruber sagt:

      Da gebe ich Ihnen absolut recht. Es gibt kaum mehr Parlamentarier, welche sich für Sicherheitspolitik interessieren. Die einzigen, die die Dossiers gründlich studieren, sitzen leider auf der falschen Seite: NR Evi Allemann und NR Chantal Galladé.

  7. Hans Schmid sagt:

    Herrn Ueli Gruber ist vorerst einmal zuzustimmen. Ob die Mob Org der A 61 den Härtetest im Ernstfall bestanden hätte wissen wir nicht. Genau deshalb haben wir diesen Fall unter wirklichkeitsnahen Szenarien geübt.
    Jeder Wehrmann kannte den Namen seines Einrückungsortes, etwa 90 % kannten den Org-Platz aus eigener Erfahrung, auf dem Weg dorthin war er bewaffnet (heute dürfen sie noch das Gewehr tragen), das Material war vorort, die Raupenfahrzeuge bei etwas Voraussicht seit Tagen dezentralisiert und aufmunitioniert, die Einschiessplätze und die Ausbildungsplätze vorhanden und erprobt. Der aufgebotene Istbestand hätte die erste Kampfkraft innerhalb 48 Stunden erreicht – für Auslandabwesende, Kranke, Drückeberger, zu spät Einrückende war eine Auffangorganisation vorhanden.
    Was ist davon geblieben?
    NICHTS!
    Material und Fahrzeuge sind an wenigen Orten konzentriert, deren Koordinaten aus dem Internet ersichtlich. Es braucht nur noch eingetippt, auf Weltwerte umgerechnet und die Auslösetaste einer Abstandswaffe gedrückt werden.
    Die Weitere Eliminierung der Armee (WEA) will nun innert 10 Tagen bis zu 35’000 Mann ab 2020 aufbieten können. Voraussetzung dazu ist das die 5 Log-Bat, das Verkehrs-Bat und das Transport-Bat als „Miliz-Bat mit hoher Bereitschaft“ vorher aufgeboten sind, einsatzbereit gemacht wurden und sie Material und Fahrzeuge für die Truppe in der Logistikbasis noch vorfinden.
    Um diese Unterschiede geht es und nicht um eine Glorifizierung früherer Zustände. Ich wusste um die Schwachstellen der Mob Org in meinem Aufkl Bat, heute kennt man nicht einmal die Mängel.

Kommentare sind geschlossen.