Das Undenkbare denken – oder an Georgien

Das Undenkbare denken – oder an Georgien

Anknüpfend an meinen Beitrag vom 27.3.2012 halte ich es für möglich, dass sich auch in Europa Dinge ereignen, auf welche die Schweiz und ihre Armee nicht rechtzeitig vermögen angemessen zu reagieren. Ich postuliere desweiteren: In solchen Situationen sind Selbstvertrauen, Improvisation und Reserven (und natürlich das Gold selbst) immer Gold wert. Und gerade in so einem schlimmsten anzunehmenden Fall bieten 300’000 militärisch ausgebildete Bürger mit zweckmässiger Bewaffnung weit mehr Handlungsspielraum als 30’000 falsch hochgerüstete Berufssoldaten. Georgien kann davon schon heute schon ein Lied singen.
(Es sei klar festgehalten, dass dieser Artikel keine Wertung dieses Krieges und seiner diversen Akteure nach moralischen oder völkerrechtlichen Massstäben zum Inhalt hat. Vielmehr lehne ich mich eng an Matthias Kusters Anaylse des Krieges von 2008 “aus militärstrategischer Sicht” an. Diese erschien in der Military Power Revue der Schweizer Armee, Nr. 1/2011 (ASMZ 6/11-Beilage).)
Georgien – der Schweiz um Jahre voraus?
Georgien war im Jahr 2008 mitten dabei, eine neue Sicherheitsstrategie mit dem Ziel eines NATO-Beitrittes umzusetzen. Die NATO-Mitgliedschaft sollte dem kleinen Land die völlige Sicherheit vor dem übermächtigen Nachbarn im Norden verschaffen. Für den Westen wäre dadurch eine Pipelinelinie an der russischen Südflanke vorbei gesichert worden. Bevor Georgien in den sicheren Schoss des mächtigsten Militärbündnisses aufgenommen wurde, musste es seine Streitkräfte der westlichen Militärdoktrin anpassen, konkret: Abbau der eigenen Verteidigungsfähigkeit zugunsten der Befähigung zu internationalen Einsätzen. Brav hielten Georgier für den Westen im Irak den Kopf hin. Die Gegenleistung hielt sich etwas in Grenzen. Die Folge: eine der vier georgischen Brigaden musste im fernen Irak erfahren, dass die russische Kriegsmaschinerie in ihr Heimatland einmarschierte.
Militärische Lehren
Georgiens Armee, ausrüstungstechnisch der russischen Expeditionstruppe in den meisten Bereichen voraus, stand innert fünf Tagen besiegt und praktisch ohne schwere Waffen da. Erinnern wir uns: Ein ähnlich grosses russisches Militärkontingent war keine 15 Jahre zuvor gegen (international isolierte) tschetschenische Freischärler kläglich gescheitert. Welche Schlussfolgerungen zogen westliche Militärexperten (auch bei uns)? Zu allererst betonen sie, dass die russische Armee noch immer weit hinter der NATO herhinkt, was präzises Bombardieren, moderne Führungssysteme etc. anbelangt. Das klingt für mich wie wenn man im Sport verliert und sich damit tröstet, dass man selbst die neueren Schuhe und ein trendigeres Trikot getragen hat…
Am meisten Probleme bereitete den russischen Bodentruppen offenbar der Beschuss durch Clustermunition [!] (artilleristisch und aus der Luft). Die russischen Flugzeuge ihrerseits erlitten u.a. durch tragbare Luftabwehrraketen der Georgier empfindliche Verluste. Clustermunition gilt im Westen und im Zeitalter humanitärer Interventionen bekanntlich als ‚out’. Aber die Georgier machten sich offenbar über mögliche Blindgänger auf eigenem Boden weniger Sorgen als um die heranrollenden Mot-Schützen-Kolonnen, die auf den wenigen Einmarschrouten ausserdem ein ziemlich gutes Ziel geboten haben müssen. Zur mann-portablen Luftabwehr sage ich an dieser Stelle nur, dass solche Systeme beileibe kein Privileg für hochmoderne Berufsarmeen sind.
Was geschieht derweil in der Schweiz? Man singt weiter das hohe Lied von der „Sicherheit durch Kooperation“, stampft hochwertige Kanistermunition ein und unser einst legendär dichtes Luftabwehrnetz ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Und obwohl alle über angeblich unbezahlbare Hightech-Waffen lamentieren, verbietet sich das VBS jeden Gedanken über eine asymmetrische Verteidigungsarchitektur. Was Georgien bei Kriegsbeginn noch an symmetrischen Kampfmitteln hatte, war innert fünf Tagen von einer ‚Retro-Massenarmee’ zusammengeschossen worden. Und siehe da – dasselbe Russland, dass angeblich zu keiner ‚zeitgemässen’ Kriegführung auf ‚westlichem Niveau’ fähig war, ergänzte seinen Angriff zu Land, Wasser und in der Luft durch eine grosse Cyberoffensive. Auf keinen dieser Angriffe scheint Georgien durch seine amerikanischen Militärberater vorbereitet worden zu sein.
Machtpolitische Lehren
Gerade weil Georgien kurz davor stand, sich für Russland durch einen NATO-Beitritt faktisch unangreifbar zu machen, provozierte es einen Krieg, den es nicht nur trotz, sondern gerade wegen seiner NATO-konformen Armee nur verlieren konnte. Es ist durchaus denkbar, dass Georgien heute weit weniger ohnmächtig den eigenen Separatisten und Moskaus ‚veralteten’ Schützendivisionen gegenüberstehen würde, wenn es eine eigenständige Sicherheitsstrategie gewählt hätte, statt sich beim Westen anzubiedern. (Wie gesagt, ich beschränken mich hier allein auf die militärstrategische Ebene!) Tatsächlich schätzte der georgische Generalstab in seinem Weissbuch vom Jahre 2007 die Gefahr einer feindlichen Grossinvasion als „extrem gering“ ein. Wieso das Undenkbare denken, wenn man bald NATO-Mitglied ist…
Georgien ist der traurige Beweis dafür, dass sich der Kleinstaat leider auch im 21. Jahrhundert nicht uneingeschränkt auf eine wohlwollende, demokratische Weltgemeinschaft verlassen kann. Die Tschechoslowakei war seinerzeit von ihren ‚Verbündeten’ [heute würden Politiker wohl von ‚Freunden’ sprechen] aufgefordert worden, Hitler ihren am besten befestigten Landesteil abzutreten. Die Georgier mussten den wahrscheinlich ‚besten’ Teil ihrer Armee buchstäblich in die Wüste schicken, damit sie überhaupt die Hoffnung hegen konnten, der NATO beitreten zu dürfen.
Die Schweiz braucht wohl kaum Angst vor der NATO oder der EU zu haben – aber wollen wir uns wirklich auf Gedeih und Verderb auf deren Schutz bzw. deren Hilfe in der Not verlassen? Und wie viele der enormen Fähigkeitslücken unserer Armee erscheinen in den Augen gewisser Leute als notwendige Schritte‚ hin zu einer modernen Schweizer [NATO-Anhängsel-]Armee’? Eines scheint klar: ein Kleinstaat, der im schlimmsten Fall militärisch keine Zeit für sich schinden kann, dem kann auch die wohlwollenste Weltgemeinschaft schwerlich helfen.

 

Kommentare: 2

  1. Fritz Kälin sagt:

    Noch ein präzisierender Nachtrag zum Zitat aus dem georgischen “Weissbuch”:
    Es ist ‘nur’ ein Sicherheitsbericht, der ausserdem vom Verteidigungsministerium, nicht vom Generalstab, an das georgische Parlament ausgehändigt wurde. Pardon für die Ungenauigkeit.
    Der Inhalt ist jedoch korrekt wiedergegeben. Kusters Quelle: Ronald D. Asmus, A little war that shook the world, New York 2010, S. 147.

  2. Fritz Kälin sagt:

    Ein weiterer, später Nachtrag zu meinem obigen Beitrag: Der inzwischen verstorbene Div a.D. Dr. iur. Hans Bachofner zog aus dem Georgienkrieg folgende Schlüsse:
    “Der Georgien-Krieg hat das bewirkt, was jeder Krieg bewirkt: Er hat mit aller Brutalität die aktuellen realen Machtverhältnisse aufgezeigt. Es stellte sich heraus, dass Russland militärisch handlungsfähig ist und auf strategischer Stufe sogar brillant operierte.
    […]
    Falsch ist es, nach Wahrscheinlichkeiten zu suchen, da wir als Menschen das, was wir nicht kennen, als unwahrscheinlich betrachten. Wahrscheinliche Szenarien sind in der Regel die bequemen Szenarien. Wir müssen also nach den gefährlichen Szenarien fragen.
    “Kooperation” ist ein Wort aus der Schublade der PR-Berater. Im Grunde genommen handelt es sich um Abhängigkeiten und Verschiebung der Verantwortung.
    Als besonders nachteilig erachte ich die Interoperabilität, die Unterstellungsfähigkeit unter die Armee der Amerikaner und der Nato.”
    http://www.sipol09.ethz.ch/Transkriptionen/Verschiedene/Div-a.D.-Dr.-iur.-Hans-Bachofner
    Dies an alle, die heute wieder für ‘mehr Kooperation mit fremden Armeen UND weniger Geld für die eigene Armee’ plädieren…

Kommentare sind geschlossen.