Albert Stahel: «Bern muss erkennen, dass Geopolitik eine Realität ist»

Albert Stahel: «Bern muss erkennen, dass Geopolitik eine Realität ist»

BaZ: Herr Stahel, droht von der Ukraine aus ein Flächenbrand?
Albert Stahel: Nein. Es geht Russland um die Halbinsel Krim, es geht um die Ukraine. Russland betreibt Geo- und Machtpolitik. Die Situation soll aus russischer Sicht bereinigt werden, indem der eigene Einflussbereich erhalten oder – mit Blick auf die Ukraine – ausgebaut wird. Den grossen Krieg in Form eines breiten Vorstosses gegen Westen will Putin nicht.
Wie ist das russische Vorgehen militär-strategisch und -taktisch zu beurteilen?
Putin muss die Krim einnehmen, damit er das Asowsche Meer und das Schwarzmeer beherrschen kann. Und von dort aus auch den Zugang zum Mittelmeer hat. Putins Stoss in die Krim ist geostrategisch logisch. Taktisch ist das Vorgehen sehr geschickt. Zuerst wurden Elitesoldaten geschickt, welche die Stützpunkte abriegelten, dann erfolgte die Besetzung der Krim. Putins konsequente Aufrüstung in den vergangenen Jahren, sein Bemühen, mit wechselnden Verteidigungsministern Ordnung in die Armee zu bringen, Berufssoldaten einzustellen und auszubilden, das alles zeigt jetzt Früchte. Wir sehen top ausgerüstete Elitesoldaten und nicht mehr die Bilder von vor einigen Jahren, als die russischen Soldaten einen desolaten Eindruck machten. Auf der Seite der Ukraine sehen wir noch den Typ «alter Sowjetsoldat».
Auffallend sind erschreckte Reaktionen von Politik und Medien in Europa. Was sind die Gründe für diesen Alarmismus?
Das ist die nackte Angst, weil man die Streitkräfte systematisch vernachlässigt hat und die Auffassung vertrat, es fänden in Europa keine militärischen Auseinandersetzungen mehr statt. Es hat in der Nato und in der EU eine militärische Entwöhnung gegeben. Entsprechend weiss man jetzt nicht mehr, wie Streitkräfte eingesetzt werden können – nämlich nicht nur um Krieg führen zu können, sondern auch als Druckmittel. So, wie es Putin zurzeit macht. Früher nannte man dies Kanonenbootpolitik.
Welche Möglichkeiten hat nun die Nato?
Sie kann eigentlich nur protestieren, salutieren, sie kann die Achtungsstellung einnehmen. Mehr nicht. Militärisch handeln kann sie nicht, weil die Nato-Staaten abgerüstet haben. Die Einzigen, die glaubwürdig geblieben sind, sind die Franzosen und die Briten, wegen ihren Nuklearwaffen. Die USA wären glaubwürdig, sie haben aber aus Europa immer mehr Kampfmittel abgezogen. Ihr Ziel ist die Abrüstung auf drei Kampfbrigaden.
Der Westen hat also Putin direkt ermuntert, seine Ziele mit militärischen Druckmitteln zu erreichen – weil keine Gegenmacht mehr vorhanden ist?
Richtig. Weil auf der westlichen Seite kein Gegendruckmittel mehr aufgebaut werden kann, ist dies für Putin die ideale Voraussetzung, um eine Bereinigung durchzuführen und mit militärischer Macht ein Fait accompli herbeizuführen.
Die Schweiz plant derweil die nächste Reform mit einem Abbau auf einen Armeebestand von 100 000, die nicht alle ausgerüstet und nur teilweise mobilisiert werden können. Ist die Schweiz auf dem richtigen Weg?
Grundsätzlich müsste ein Umdenken stattfinden. Als erstes müsste Bern erkennen, dass Geopolitik eine Realität ist. Wer in einem geopolitischen Rahmen Einfluss nehmen will, muss über eine militärische Macht verfügen. Wenn man ein Territorium verteidigen will, muss man dazu über ein glaubwürdiges Instrument verfügen. Der jetzt eingeschlagene Weg bedeutet eine weitere Abrüstung. Am Schluss führt dies in die Bedeutungslosigkeit, weil der Staat praktisch entwaffnet ist. Der bessere Weg wäre, den Armeebestand aufzustocken und die Schweizer Armee zu modernisieren. Denn nur, wer eine glaubwürdige militärische Macht ist, wird politisch wahrgenommen. Die Voraussetzung, dass man politisch wahrgenommen wird, beruht auf militärischer Macht. Wer sein Territorium nicht schützen kann, wird nicht als eigenständig wahrgenommen und wird degradiert zum Vasallenstaat – zum Beispiel als Anhängsel Berlins. Leider begeben wir uns mit den neuen Armeeplänen auf diesem Weg.
Was ist von unserer Sicherheitspolitik und der Armeeführung zu erwarten?
Dass sie über die Bücher gehen. Was wir bis jetzt machen, ist naiv und zeigt, dass keine strategischen, historischen und sicherheitspolitischen Kenntnisse vorhanden sind. Die heutige Sicherheitspolitik orientiert sich nicht am Realismus, sondern an der Fantasie. Man gibt sich Träumen hin. Seit den 1990er-Jahren ist unsere Sicherheitspolitik auf die öffentliche Meinung ausgerichtet und nicht mehr auf das weltpolitische Geschehen und die geopolitische Lage. Das ist letztlich Ausdruck von Dekadenz. 
Quelle: BaZ, 4. März 2014, Seite 4