Die sogenannte Weiterentwicklung ist in Tat und Wahrheit eine Halbierung der Armee

Die sogenannte Weiterentwicklung ist in Tat und Wahrheit eine Halbierung der Armee

Die beiden Autoren befassen sich seit 2008 sehr intensiv mit den bundesrätlichen Absichten, die Armee massiv zu schrumpfen. Sie hatten bereits an den Anhörungen zum Sicherheitspolitischen Bericht 2010 teilgenommen und 2013 die Vernehmlassungsantwort von Pro Militia massgebend mitverfasst. Sie nah-men als Vertreter von Pro Militia an den Anhörungen über die Revision der Militärgesetzgebung für die sogenannte Weiterentwicklung der Armee sowohl 2014 durch die Sicherheitspolitische Kommission des Ständerates als auch 2015 durch diejenige des Nationalrates teil.
von Paul Müller, Div aD / Heinrich L. Wirz, Oberst aD
publiziert in der Zeitung “Pro Militia” Nr. 2/2015

Bei der Vorlage „Revision Militärgesetzgebung / Weiterentwicklung der Armee“ (14.069) geht es um ein ineinandergreifendes, kompliziertes, unübersichtliches und alle Elemente der Armee tiefgreifend beeinflussendes Vorhaben: Führung, Organisation, Ausbildung, Ausrüstung, Bereitschaft, Bestände, Diensttage, Finanzen, Standorte, Waffen-, Flug- und Arbeitsplätze, Stationierungskonzept, Rechtsgrundlagen sowie Aufgaben, Befugnisse und Verantwortung aller Führungsstufen von VBS und Armee.
Der Ständerat (SR) verabschiedete die Vorlage am 19. März 2015 wie nachfolgend umrissen. Beim Erscheinen dieser Zeitung wird voraussichtlich auch die Sicher-heitspolitische Kommission des Nationalrates (SiK-NR) am 19. Mai 2015 das Geschäft abschliessend behandelt haben. In der Sommersession könnten je nach Verlauf der Differenzbereinigung die Schlussabstimmungen beider Räte bereits am 19. Juni 2015 stattfinden.
Sollbestand der Armee
Den Sollbestand will der SR von gemäss geltender Armeeorganisation (AO; SR 513.1) „höchstens 220‘000 Militärdienstpflichtigen“ auf 100‘000 Angehörige der Armee (AdA) senken, entsprechend einem „Effektivbestand“ (richtig wäre: Effektivbedarf) von 140‘000 AdA. Aufgelöst würden die Reserve von heute „höchstens 80‘000 Personen“, die sieben (Gebirgs-) Infanteriebrigaden sowie 72 Bataillone und Abteilungen (20 Aktive, 52 Reserve). Je vier der heutigen 16 Infanteriebataillone der vier aktiven Brigaden würden je den vier Territorialdivisionen – heute Territorialregionen – unterstellt.
Die bestehenden zwei Panzerbrigaden würden in Mechanisierte Brigaden umgewandelt und deren Zahl auf drei erhöht. Diese dritte Brigade bestünde aus einem Stab und bestehenden Bataillonen der Heeresreserve (Aufklärung, Artillerie, Genie) und nicht aus Kampftruppen und -fahrzeugen. Ein (zurückgezogener) Antrag für einen Sollbestand von 140‘000 Militärdienstpflichtigen führte zu einem Postulat „Reaktionsfähigkeit auf Krisen verbessern – Bestandeserhöhung für die Armee“ (15.3370).
Armeeorganisation
Der SR hält an der AO fest, verschiebt jedoch sowohl die Rekrutenschule von neu 18 Wochen als auch die Wiederholungskurse (WK) in das Militärgesetz (MG; 510.10). Gemäss geltendem Recht sind bei 21 Wochen RS sechs und bei 18 Wochen RS sieben WK zu
19 Tagen zu leisten. Der SR entschied sich für noch fünf WK zu drei Wochen. Die gesetzlichen höchstens 330 Tage Ausbildungsdienst der Mannschaft senkte der SR auf 280 Tage und beschränkte die Diensttage für die übrigen AdA auf höchstens 1‘700.
Im MG würde sowohl eine Ausbildungsgutschrift als auch eine Ombudsstelle verankert. Der Waffeneinsatz gegen Luftfahrzeuge und die Ausserdienststellung von Rüstungsgütern sollen gesetzlich geregelt werden. In der AO würde die bestehende Führungsorganisation („Kopfstruktur“) mit einem Chef der Armee beibehalten. Einerseits sollen die Führungsunterstützungsbasis und die Logistikbasis der Armee in einem übergeordneten Unterstützungskommando mit einem weiteren Korpskommandanten zusammengefasst werden. Andererseits ginge die Luftwaffe weiterer Teile verlustig (Fliegerabwehr), wäre dem neu vorgesehenen Kommando Operationen unterstellt und damit in fahrlässiger Weise herabgestuft.
Grundlegende Gebrechen
Die gesamte Vorlage gleicht einer brüchigen Fassade auf einem wackeligen Fundament. Sie stammt erstens aus einer Zeit der europäischen Friedenseuphorie zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit entsprechender Vernachlässigung eigener Sicherheit und Verteidigung, nicht nur in der Schweiz. Aus dieser illusionären Geisteshaltung heraus entschied zweitens der Bundesrat – wer weiss noch dessen Mitglieder? – bereits in seiner Klausursitzung vom 26. November 2008 faktisch, die personellen und materiellen Mittel der Armee weiter zu reduzieren.
In diese Richtung gingen drittens sowohl der Sicherheitspolitische Bericht als auch der Armeebericht von 2010. Darin wurden ein Sollbestand von 80‘000 Angehörigen der Armee (AdA) mit jährlich rund 5 Millionen Diensttagen als Eckwerte genannt. Auf diesen überholten strategischen Grundlagen beruht viertens die Botschaft zur Änderung der Rechtsgrundlagen für die Weiterentwicklung der Armee (WEA) vom 3. September 2014. Immerhin hatte das Parlament am 29. September 2011 erstmals Gegensteuer gegeben mit seinem Planungsbeschluss für einen Sollbestand von 100‘000 AdA und einem Ausgabenplafond von 5 Milliarden Franken ab 2014.
Vorlage bleibt ungenügend
Vergleicht man die Gesetzes- und Organisationsänderungen in der Fassung des Ständerates mit derjenigen des Bundesrates, so sind einige vordergründige Verbesserungen erkennbar. Stellt man jedoch die ständerätliche Fassung dem geltenden Recht (MG, AO) gegenüber, so springen die oben beschriebenen Verschlechterungen und deren unumkehrbare Folgen ins Auge, zum Beispiel die Aufgabe der Kampfinfrastruktur.
Die in „Pro Militia“ 1/2015 gestellten sechs Grundfragen sind bisher behördlicherseits offen geblieben:

  1. Sicherheitsraum Schweiz?
  2. Bundesverfassung?
  3. Bedrohungslage?
  4. Revision Militärgesetz?
  5. Milizprinzip?
  6. Volksentscheid?

Dazu trägt auch eine unverständliche Geheimniskrämerei der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerates bei. Sie will die Ergebnisse der im Anschluss an ihre Anhörungen dem VBS erteilten Zusatzaufträge nicht herausrücken, nicht einmal den Angehörten, zum Beispiel den Vertretern der ausserdienstlichen militärischen Milizvereinigung. Ohnehin sind die einschlägigen Behördenunterlagen nicht bürgerfreundlich.
Lücken und Mängel, Fazit
Der Teufel steckt im Detail. Sowohl eine verbindliche Begriffsbestimmung „Verteidigung“ als auch eine Doktrin fehlen. Letztere ist angeblich vorhanden, aber nicht zugänglich. Die Verantwortlichkeit des Bundes für die Innere Sicherheit ist nicht klar geregelt. Der Verzicht auf eine personelle Reserve ist unverantwortlich. Die Frage nach einem Generalstabschef, einer breiteren Armeespitze und einer einfacheren Führungsorganisation mit weniger Stäben anstatt des Chefs der Armee als Nadelöhr zum Vorsteher VBS ist unbeantwortet. Der Vorschlag einer pyramidenförmig und dezentral gegliederten Armee bleibt offen.
Die beantragte Auflösung insbesondere von aktiven Brigaden und Bataillonen/Abteilungen und auch der Reserve ist milizfeindlich und militärisch-operativ ein Unsinn. Die angepriesene Regionalisierung dreht sich bei näherer Prüfung ins Gegenteil. Unbefriedigend ist die vorliegende Neufassung der AO, aus der sowohl die Rekrutenschule als auch die Wiederholungskurse in das MG verlegt und Diensttage beschränkt würden. Im Übrigen beeinträchtigten die nur noch fünf Wiederholungskurse die Ausbildung in unzumutbarer Weise.
C’est à prendre ou à laisser: Die Vertreter des VBS betonen seit jeher, dass die Vorlage WEA ein Gesamtpaket sei. Dieses ist politisch und militärisch bereits mehrfach in Schieflage geraten und gehört zurückgeschickt an den Absender.