Dienstpflicht anstatt Wehrpflicht? – Der grosse Irrtum von Avenir Suisse
Avenir Suisse vertritt in ihrem neuen Buch «Ideen für die Schweiz» die Umwandlung der Allgemeinen Wehrpflicht in eine allgemeine Dienstpflicht für alle, auch für die Frauen. Wenn man weiss, welch hohe Ansprüche Avenir Suisse an sich selber stellt, ist diese Fragestellung höchst fragwürdig, weil sie das geltende Völkerrecht völlig ausser Acht lässt.
von Simon Küchler, KKdt aD – Quelle: Pro Militia 1/2013
Wer ist Avenir Suisse?
Avenir Suisse wurde 1999 von 14 international tätigen Schweizer Firmen ins Leben gerufen. 2004 beschloss der Stiftungsrat, die Aktivitäten des «Think-Tank» (Vordenkerrolle) unbefristet weiterzuführen. Als unabhängiger Think-Tank engagiert sich Avenir Suisse für die gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Entwicklung der Schweiz. Im Gegensatz zu Interessen-Verbänden beteiligt sich Avenir Suisse nicht aktiv an Vernehmlassungen oder Abstimmungskampagnen, sondern will vielmehr als Think-Tank möglichst frühzeitig Beiträge zur wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Meinungsbildung leisten. Soweit Aussagen aus dem Leitbild der Organisation.
Fragwürdiger Zeitpunkt
Wenn Avenir Suisse für sich in Anspruch nimmt, sich nicht direkt an Abstimmungskampagnen zu beteiligen, ist dies im Vorfeld der GSoA-Initiative (Volksabstimmung vermutlich im Herbst 2013), welche die allgemeine Wehrpflicht abschaffen will, eine zumindest indirekte Einflussnahme auf die Meinungsbildung. Im Vorfeld des Abstimmungskampfes könnte als Alternative der Vorschlag von Avenir Suisse, nämlich die Wehrpflicht durch eine allgemeine Dienstpflicht zu ersetzen, verschiedene Leute dazu bewegen, die GSoA-Initiative zu unterstützen, um den Weg zu öffnen für eine allgemeine Dienstpflicht. Warum nicht? Es wäre doch schön, wenn der Arbeitskräftemangel in vielen Sozialdiensten durch die Dienstpflicht junger Frauen vermindert werden könnte.
Unrichtige Fragestellung
Es ist mehr als erstaunlich, dass eine «Vordenker-Organisation» mit so hohen Ansprüchen wie Avenir Suisse eine Frage aufwirft, die völkerrechtlich gar nicht umsetzbar ist. Gemäss Artikel 4, Absatz 2, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), erfüllt eine allgemeine Dienstpflicht den Tatbestand der Zwangsarbeit und ist deshalb nicht möglich. Einzige Ausnahmen bilden der Wehrdienst mit dem zivilen Ersatzdienst und Dienstleistungen bei Notständen und Katastrophen, wie im Artikel 4 der EMRK aufgeführt:
Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit
1. Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
2. Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten.
3. Nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne dieses Artikels gilt
a) eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b) eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c) eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d) eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
Gutachten nicht beachtet
Avenir Suisse hätte zumindest das Gutachten von Professor Dr. Rainer J. Schweizer von der Universität St. Gallen vom 23. August 2010 zur Kenntnis nehmen müssen. Professor Schweizer beurteilt darin zuhanden des VBS die verfassungs- und völkerrechtlichen Anforderungen an die Verteidigungskompetenz der Armee. Dabei kommt er auch auf die völkerrechtlich eingeschränkte Wehrpflicht zu sprechen, bzw. die Unmöglichkeit einer allgemeinen Dienstpflicht. Zumindest diese Aussagen hätte Avenir Suisse zur Kenntnis nehmen müssen, anstatt mit einem völkerrechtlich unhaltbaren Vorschlag eine völlig falsche und unrealistische Diskussion vom Zaune zu reissen.
Deutschland und Österreich
Es gibt nur zwei Alternativen zur allgemeinen Wehrpflicht: die Freiwilligkeit und das Berufsheer, das ja auch auf Freiwillige angewiesen ist. Den Weg der Freiwilligkeit hat Deutschland nun beschritten mit dem Ergebnis, dass ein Drittel der Freiwilligen beim erstmöglichen Termin wieder aussteigt. Österreich hat vor kurzem für die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht gestimmt, auch weil dort die Dienstverweigerer mehrheitlich im Rotkreuzdienst und in der Katastrophenhilfe eingesetzt werden und man diese Dienstleistenden nicht verlieren wollte. Bei einer Freiwilligkeit des Wehrdienstes hätte es keine Verweigerer mehr gegeben, und die Kräfte im Rotkreuzdienst und in der Katastrophenhilfe wären nicht mehr verfügbar gewesen.
Falsche politische Diskussion
Es ist zu hoffen, dass die falsche Idee einer allgemeinen Dienstleistungspflicht im Vorfeld der Wehrpflichtabstimmung nicht zu einer unnötigen politischen Diskussion führt. Vor geraumer Zeit äusserte der Zentralpräsident der CVP Schweiz, Nationalrat Christophe Darbellay, die Absicht, den Ersatz der Allgemeinen Wehrpflicht durch eine allgemeine Dienstpflicht ins Parteiprogramm aufnehmen zu lassen. Aufgrund meiner Intervention und dem Hinweis auf die völkerrechtlichen Aspekte hat er darauf verzichtet. Es bleibt zu hoffen, dass Avenir Suisse den Irrtum einsieht und diesen verkehrten Denkanstoss möglichst rasch berichtigt und zu Grabe trägt.
Simon Küchler, Korpskommandant a D
letzter Vertreter der Miliz als Kommandant des Gebirgsarmeekorps 3 (1993–1999)
Vizepräsident Pro Militia
Kommentare: 1
Ich habe bereits im November letzten Jahres Herrn Gerhard Schwarz (früher Chef Wirtschaftsredaktion NZZ), heute Direktor Avenir darauf hingewiesen, dass eine allgemeine Dienstpflicht gegen die EMRK verstösst. Meine Gegendarstellung wurde leider von der NZZ nicht veröffentlicht! Ich werde den Ball mit Avenir Suisse wieder aufnehmen. Den Verfasser der 44. Idee kenne ich persönlich. – Wir sollten in der Lage sein, mit namhaften Persönlichkeiten endlich in der Presse klar Stellung zu nehmen und die 44. Idee von Avenir Suisse klar zu brandmarken! Für einen solchen Unsinn brauchen wir gar keine Avenir Suisse, dies ist ein Skandal! Die NZZ spielt hier leider auch mit, allerdings diesmal auf der falschen Seite. Dies erklärt sich klar aus der früheren Position von Gerhard Schwarz.
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