Erinnerungen an den 2. Weltkrieg
von Hans Meier, St. Gallen
Sehr geehrte Redaktion der “Gruppe Giardino”
Besten Dank für die tägliche Übermittlung Ihrer Kommentare zu militärischen Belangen. Ich lese Ihre Nachrichten stets mit grossem Interesse, gelegentlich auch mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen. Vielleicht sollte Ihre Gruppe nicht nur Politikern Nachhilfestunden in den im letzten Mail erwähnten Bereichen empfehlen, sondern auch den Verfassern des Bergier-Berichtes. Dem Vernehmen nach, sollen Bewunderer dieses ominösen Berichtes die Aufnahme einer Kurzfassung in den Lehrplan von Schulen (in Zürich??) anstreben. Immer wenn ich z.B. das “Zitat 3 auf Seite 540” des Berichtes lese, “kommt mir die Galle hoch.” Der entsprechende Text lautet wie folgt und ich zitiere:
“Breiten Kreisen der Bevölkerung schien die äussere Bedrohung, sowohl in militärischer Hinsicht, als auch bezüglich einer potenziellen Einschränkung der Versorgung mit Nahrungsmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern real….”
Ich finde diese Aussage als eine posthume Beleidigung der Generation meiner Eltern. Ich bin auf einem kleinen, gepachteten Bauerngut am Rande des Bodenseestädtchens Arbon aufgewachsen. Nachdem die Schweiz, die, Irrtum vorbehalten, damals zu 60 % von der Getreideeinfuhr aus Übersee abhängig war und spätestens ab 1942 von den Achsenmächten völlig umzingelt war, mussten die Landwirte aufgrund des “PLAN WAHLENS” auf 10 % (?) der Kuhweiden, Weizen und Gerste anbauen; das Korn musste dann gemahlen und das Mehl zum Bäcker gebracht werden, wo ich als 10-jähriger Knabe jeweils mindestens 24 Stunden altes, mit Kartoffelstückchen “gestrecktem” Brot holen musste. Auf den Lebensmittelkarten der Bauern fehlten bekanntlich Mehl-, Brot- Milch- und Eier Coupons. War der Vater im Militärdienst, musste alle Arbeit in Feld und Stall von Mutter und Kindern bewältigt werden. Für bezahlte Aushilfen reichte das Einkommen nicht.
Nachts bombardierten die Briten und tagsüber die Amerikaner jeweils das gegenüber liegende Bodensee-Ufer, mit Friedrichshafen als hauptsächliche Zielscheibe. Waren wir in der Schule, mussten wir während des Flieger-Alarms in den Keller und nachts wurden wir von Sirenengeheul aus dem Schlaf gerissen. Wir hörten dann deutlich das Brummen der fremden Flugzeuge über uns und sahen später vom Fenster aus, wie die deutsche Fliegerabwehr die Flugzeuge ins Fadenkreuz nahm und es dann nicht selten zu einem Abschuss kam. Tage später wurden Flugzeugreste etc. an unser Ufer geschwemmt.
Während in Arbon “nur” einmal ein Blindgänger in ein Wohnhaus einschlug, starben bei einem, wohl versehentlichen, US-Bombenabwurf über Schaffhausen 35 Menschen. Ich besitze immer noch die Ausgabe der “Schweizer Illustrierten”, die ausführlich darüber berichtete. Und wenn man dann das oben erwähnte Zitat von nach dem Krieg geborenen Historikern lesen muss, versteht man die Welt nicht mehr. Und ausgerechnet einer der Verfasser des Bergier Berichtes, nannte seinen Berufskollegen Hausi (alias “Jean”) Ziegler einen “Schwätzer”. Ja, das war er und ist es auch heute noch.
Nur ihn nimmt, im Gegensatz zu den Herren Professoren G.K. und J.T., niemand mehr ernst. In einem TV-Interview sagte J.T. einmal, der alte Bührle hätte den Nazis bedeutend mehr Waffen geliefert, als andern Staaten. Ja, der deutsch-stämmige Bührle war damals schon als Nazi freundlich bekannt und als die Engländer eines Nachts seine Waffenschmiede in Oerlikon bombardierten, hörte ich nur Kommentare wie “geschieht dem Kerl” recht. Aber Bührle hätte noch so gerne seine Waffen auch anderen kriegsführenden Staaten verkauft, aber die Schweiz war ja von den Faschisten lückenlos umzingelt. Wie RUAG heute, konnte Bührle auch damals nicht ohne Waffenexporte überleben. Wenn wir eine Armee wollen, müssen wir logischerweise auch Waffen herstellen können.
Und dann nervte mich auch die Aussage von Herrn Prof. G. K., dass das “Reduit” erst fertig gebaut war, als die Nazis keine grosse Gefahr mehr waren für unser Land. Hat dieser Mitverfasser des Bergier Berichtes noch nie von Marschall Titos jahrelangem Widerstand gehört? Die Nazis waren bekanntlich nicht in der Lage, das ebenfalls bergige Jugoslawien vollständig zu besetzen; ein unverhältnismässig grosser Teil der deutschen Armee musste dort eingesetzt werden, um die “Partisanen” einigermassen unter Kontrolle zu halten. Ich bin fest überzeugt, dass dies auch nach einem Einmarsch in die Schweiz, mit oder ohne Reduit, der Fall gewesen wäre.
Nach Kriegsende hat sich, m.W. auch ein hoher ex-Wehrmacht Offizier in diesem Sinne geäussert. Aber das alles wird von den Mitgliedern der Bergier-Kommission total ignoriert. Einige Monate nach der Veröffentlichung des Berichtes, trat Historiker Bergier im hiesigen Restaurant Schützengarten auf und auf die Frage aus den Reihen des Publikums, weshalb er es zugelassen habe, dass dieser ominöse Bericht nach ihm benannt wurde, antwortete er: “Ja, auch er habe andere Erinnerungen an die Kriegszeit, als die nach dem Kriege geborenen Kommissionsmitglieder, aber er sei von ihnen überstimmt worden und übrigens sei seine damalige Freundin Jüdin gewesen; sie habe sich nie schweizerischem Antisemitismus ausgesetzt gefühlt, wie heutige Journalisten es ihren Lesern gegenüber immer wieder geltend machen, wenn sie über die Kriegsjahre schreiben oder sprechen.”
Auch a. Bundesrätin Ruth Dreyfuss, deren Vater bekanntlich ein prominentes Mitglied der hiesigen jüdischen Gemeinde war, sprach nie von Antisemitismus. Wie bei den heutigen Asylbewerbern, waren Behörden und Volk damals vom Flüchtlingsstrom überfordert und ja, fanden, – zu Recht oder zu Unrecht – dass “das Boot voll sei.” Ja, man wusste, dass nicht aufgenommene Flüchtlinge eingesperrt würden, dass sie aber in einigen Lagern verbrannt würden, wurde erst zur Gewissheit, als die Amerikaner die entsprechenden Konzentrationslager eroberten.
Der obige Text wurde spontan und “frisch von der Leber” geschrieben; auf Grammatik und Stil habe ich nicht besonders geachtet und meine Äusserungen basieren ausschliesslich auf Kindheitserinnerungen; keine Nachschlagwerke wurden konsultiert. Ich bitte Sie, dies zu berücksichtigen.
Mit freundlichen Grüssen,
Hans Meier, St. Gallen