Wie die Schweiz ihre Eigenständigkeit in einem sich ändernden Umfeld verteidigen kann

Wie die Schweiz ihre Eigenständigkeit in einem sich ändernden Umfeld verteidigen kann

Noch im September sah es nach einem heissen Krieg im Nahen Osten aus, weil der angebliche Giftgaseinsatz der syrischen Armee – wobei die Beweise, wer eigentlich das Giftgas eingesetzt hat, bis heute fehlen – Präsident Obamas «rote Linie» überschritten hätte, die er im Februar dieses Jahres verkündet hatte. Kriegsdrohungen von Seiten der Westmächte waren jeden Tag zu hören, besonders aus Frankreich, aber auch aus der Türkei, und noch bevor irgendetwas bewiesen wurde, hatten die USA einen Flugzeugträger in den Nahen Osten geschickt. Die Zeichen standen auf Krieg. Heute, nur drei Monate später, sieht die Situation etwas anders aus. Der Konflikt in Syrien ist bis auf wenige Meldungen, vor allem über das Flüchtlingselend, aus unseren Medien gänzlich verschwunden. Präsident Assad hat der Vernichtung seiner Giftgasbestände zugestimmt und ist auf die Forderungen des Westens eingegangen, eine militärische Intervention von seiten der Nato scheint im Moment keine Option mehr zu sein. Die Situation ist aber dadurch nicht friedlicher geworden.
Interview mit Prof. Dr. Albert Stahel, Institut für Strategische Studien, Wädenswil
Quelle: zeit-fragen.ch
Seit Jahren aber hängt über dem Nahen Osten das Damoklesschwert, ob Israel den Iran angreifen und somit einen Flächenbrand auslösen würde, um nach seiner Auffassung zu verhindern, dass der Iran zur Atommacht wird. Der Iran, in diesem Sommer noch zutiefst geächtet, wird heute als Gesprächspartner an den Verhandlungen mit den Veto-Mächten der Uno, der EU und Deutschland ernster genommen. Die Lage scheint sich dort langsam zu entspannen. Eine einvernehmliche Lösung wird immer wahrscheinlicher. Grundlegend geändert hat sich aber eigentlich nichts.
Wenige Wochen später tritt in der Ukraine eine Protestbewegung ins Rampenlicht, die der US-gesteuerten «farbenen Revolutionen» vor ungefähr 10 Jahren bis aufs i-Tüpfelchen gleicht, wobei diesmal offensichtlich europäische Kräfte dahinterstecken – man hat von den USA Brauchbares für den Machterhalt gelernt. Das alles spielt sich vor einer Krise im Pazifik zwischen China, Japan und den USA ab, deren Ausgang ungewiss ist und mit der wohl kaum zu spassen ist.
Diese Entwicklungen lassen aufhorchen und verlangen nach einer Erklärung. Professor Stahel ist ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Geostrategie und für verteidigungspolitische Fragen. Zeit-Fragen konnte ihm einige Fragen stellen und mit ihm auch die Situation der Schweiz in einem sich verändernden Umfeld betrachten.
Das Interview als PDF

 

Kommentare: 4

  1. Kurt Anton Brugger sagt:

    Grüezi Giardinos, das Interview von Prof. Albert Stahel müsste zur Pflichtlektüre erklärt werden, für die Classe politique unseres Landes. Mit einem Eignungstest verbunden, für alle die sich auf den Listen des Parteien-Spektrums, um einen Sitz ins Bundesparlament (2015) bewerben. Ja, ich weiss, das ist ein Wunschtraum und wird einer bleiben!
    Mit erstaunlicher Offenheit, geht der Befragte auf das Fehlverhalten des aktuellen Parlaments und der Regierung ein. Ebenso offen klagt er die Fehler der Vergangenheit an, der damals und heute zuständigen BR und Armeeführer. Die Fähigkeit der Schweizerarmee, die Sicherheit von Land und Volk gewährleisten zu können, beurteilt er mit einem unmiss-verständlichen NEIN und bringt die Sicherheitspolitik unseres Landes gar in die Nähe eines “failed state”. Was bedeutet unfähig zu sein, sich selber verteidigen zu können und definitiv auf fremde Unter-stützung angewiesen zu sein. Damit verbunden ein massiver Verlust an Souveränität. Nicht nur in Fragen der Sicherheitspolitik, sondern auch in der Wirtschaftspolitik.
    Seine sachlichen, unaufgeregten Argumente, im Zusammenhang mit den geopolitischen Betrachtungen, erzeugen ein dramatisches Bild, über den Zustand unserer Landesverteidigung und die längerfristige Selbst-bestimmung der Schweiz im Spiel sich verändernder Machtverhältnisse.
    Was in diesem Interview zu lesen ist, hat hohes sicherheitspoliti-sches Potential. Mindestens eine Zusammenfassung (besser die Origi-nalaussagen) müsste auf allen zur Verfügung stehenden Medienkanälen öffentlich gemacht werden. Zudem sind die Aussagen die Grundlage für eine Reihe von politischen Vorstössen, auf Bundes- und auf kantonaler Ebene. Diese können zur Vorarbeit für eine spätere eidg.Initiative werden. Denkbar ist vor allem auch, dass solche Vorstösse von der GG initialisiert werden.
    Weil die eingangs genannte Pflichtlektüre mit Eignungstest ein Wunsch bleibt, kann die GG die Bewerber selber testen und damit aktiv in den Wahlkampf eingreifen. Kandidaten nicht nach Parteizugehörigkeit empf-ehlen, sondern nach ihrer Ausrichtung in Fragen der Landesverteidi-gung. Nach den Wahlen ist vor den Wahlen. Der Wahlkampf 2015 hat schon begonnen!
    Dieses Interview, geschickt politisch genutzt, erzeugt auch Goodwill. Für das was im Buch “Mut zur Kursänderung” zum Ausdruck kommt. Für unsere Landesverteidigung und Armee. Für eine Sicherheitspolitik welche der Individualität unseres Staates entspricht. Aber auch eine eigenständige Wirtschaftspolitik ermöglicht, im Machtpoker globalisierter Märkte.

  2. Beda Düggelin sagt:

    Erstaunlich, dass dieser Beitrag von Professor Stahel selbst auf dem Giardino-Blog keine grössere Aufmerksamkeit geniesst. Ich gehe mit Kurt Brugger einig, der Artikel von Herrn Stahel muss zur Pflichtlektüre erklärt werden! Bezüglich der Aufmerksamkeit unserer “bürgerlichen Politiker” für die Staatsaufgabe Nr. 1, die Sicherheitspolitik, bin ich allerdings nicht sehr zuversichtlich, da werden auch die Wahlen im nächsten Jahr nichts ändern, im Gegenteil, die Sicherheitspolitik könnte sogar in der Prioritätenliste noch weiter abrutschen, selbst wenn es uns gelingt, den Gripen über die Ziellinie zu retten.

  3. Kurt Anton Brugger sagt:

    Hallo Giardinos, Beda Düggelin sei Dank! Wenigsten einer der den Artikel von A.Stahel kommentiert. B.Düggelin sieht die Zukunft der Sicherheitspolitik unseres Landes, nicht besonders optimistisch. Ich auch nicht! Nicht wegen den Fakten welche der Sicherheits-Experte in seinem Interview präsentiert. Wegen der unglaublichen Gleichgültig-keit mit denen seine Aussagen in Militärkreisen und bei der Class politique ignoriert werden und der Tatsache, dass es überhaupt so weit kommen konnte.
    Allein diese Feststellung lässt Pazifisten und Armeeabschaffer jubilieren! Unsere Landesverteidigung entspricht ihrem lang gehegten Wunsch: “Stell Dir vor es ist Krieg und keiner geht hin!”
    Die Aussagen von A.Stahel, welche schonungslos alle technischen und politischen Mängel offen legen, können deutlicher nicht zum Ausdruck bringen, was die Gruppe-Giardino in jahrelangen Bemühungen anprang-ert! Es steht schlimmer als alles was wir bis heute zu Kenntnis nehmen mussten. Dies müsste Grund genug sein, einen Aufschrei in den Reihen aller politischen und operativen Verantwortlichen zu erzeugen. Stattdessen steht “business as usual” auf dem Programm.
    Es stimmt mich nachdenklich und ich bin auf dem Weg den Glauben zu verlieren, dass die GG in diesem Kampf gegen Schlendrian, Ignoranz und Realitätsverlust bei SOG, GGstOf und anderen paramilitärischen Verbänden innert nützlicher Frist Verbündete findet. Dabei sind es diese Organisationen denen die Thematisierung solcher Missstände in der Oeffentlichkeit obliegt.
    Solange es uns nicht gelingt ALLE Kräfte zu bündeln und auf das gemeinsame Ziel aus zu richten, werden wir in unseren Bemühungen nicht reüssieren. Das freut unsere Gegenspieler die Pazifisten!

  4. Fritz Kälin sagt:

    Prof. Stahel wagt zu sagen, was viele noch immer nicht zu denken wagen. Das Paradoxe an unserer Situation, wie sie sich seit der strategischen Wende bis heute und in absehbarer Zukunft weiter entwickelt, ist Folgendes:
    Der Schweiz sind jene Staaten potentiell am gefährlichsten, die uns geographisch, kulturell und politisch am nächsten stehen. (Nichtstaatlichen Akteure seien hier ausgeklammert.) Welche Bedrohung droht uns von unseren Nachbarn, fragt sich der Gutmütige?
    Solange der ideologische Erzfeind halb Europa besetzt hielt, waren alle westeuropäischen Demokratien im selben Boot. Seit dem Mauerfall ist der gemeinsame Feind weg – und damit vieles, was dem europäischen Integrationsprozess handfest angetrieben hatte.
    Mit dem machtpolitischen Abzug der USA aus Europa kommt wieder jenes alte Spiel zwischen den europäischen Grossstaaten in Gange (vgl. Stahel-Interview). Man kann dies bedauern, aber zumindest ist es uns nicht unbekannt. Dass das Spiel schon im Gange ist, sieht man an der Euro-Krise: In einem Europa voller ‘gleichberechtigter’ Demokratien ist es möglich, dass ausserhalb Griechenlands beschlossen wird, dass die Griechen nicht selber in einer Abstimmung über den Schuldenschnitt/ Verbleib im Euroraum abstimmen dürfen. Für unsere direkte Demokratie ist in so einem Europa kein Platz. In den Worten des ‘grossen Europäers’ J.C. Junker sind wir ein “strategisches Unding” in Europa.
    Es gibt viele, die unsere direkte Demokratie zu opfern bereit sind, um uns in dieses ‘demokratische’ Europa vollständig zu integrieren. Es ist dies ein verlockend einfacher Weg. Aber es ist nicht mehr das Jahr 1940. Die machtpolitisch relevante Welt liegt nicht mehr allein in Europa. Es gibt einen Weg, wie wir uns als das bewahren könne, worum man uns beneidet. Dazu muss die Schweiz sich nicht öffnen, jedoch grossräumiger orientieren.
    Die Schweiz kann als unbedrohlicher, neutraler Staat ohne koloniale Laster und (gemessen an ihrer Grösse überproportional) attraktiver Handelspartner fernab von Europa neue Grossmächte für sich vereinnahmen. Neue Grossmächte, die durchaus ein Interesse an uns als “strategisches Unding” inmitten der einstigen Kolonialmächte haben. Grossmächte, die kein Problem damit haben, dass wir eine etwas direktere Demokratie haben als andere Demokratien.
    Unsere (nicht koloniale) Vergangenheit (als humanitärer und neutraler Kleinstaat) ist in dieser neuen Weltordnung ein ‘Standortvorteil’ gegenüber unseren westlichen Konkurrenten.
    Damit uns neue Grossmächte zu Hilfe kommen können wenn wir sie mal brauchen, müssen wir in der Lage sein, auf unsere Anliegen aufmerksam zu machen und dann genug lange durchzuhalten, bis die grossen, aber weit entfernten Freunde ihren Einfluss zu unseren Gunsten wirken lassen können.
    Wie kann die Schweiz Zeit gewinnen, wenn es hart auf hart kommt. Was hat die Schweiz gegenüber ihren Nachbarn in der Hand? Es klingt altmodisch, ist aber schlicht zeitlos: die strategischen Verkehrsachsen (evt. die Wasseroberläufe, da kenne ich mich zu wenig aus). Alles andere (Wohlstand, Finanzplatz, Forschung) ist flüchtig, durch den Fleiss der Menschen in einem Land erwirtschaftet, dass sonst keine bequemen Ressourcen hat. Diese Errungenschaften können weitaus schneller verloren gehen, als wir sie uns erarbeitet haben. Aber die Verkehrsachsen bleiben, egal wie klug oder dumm wir uns anstellen. Sie sind der einzige harte Pfand, den die Schweiz in Verhandlungen einbringen kann. Das Sperren dieser Achsen erzeugt Aufmerksamkeit. Wer sie von aussen gewaltsam öffnen will, muss als Aggressor erscheinen. Je mehr Zeit und Mittel er dafür braucht, desto eher wird er sich einge gewaltsame Option überleben. Wie man den ‘Zugriffpreis’ militärisch hochschrauben kann, hat Prof. Stahel skizziert.
    Solange wir die Verkehrsachsen kontrollieren können, sind sie unser Trumpf. Wenn wir aber sie nicht kontrollieren können, können sie zu unserem Verderben werden. Wir investieren derzeit gigantische Summen in diese Achsen zugunsten des ganzen Kontinents. Leisten wir uns die dafür nötige Versicherungsprämie.

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