Das verlorene Gedächtnis der Schweizer Armee

Das verlorene Gedächtnis der Schweizer Armee

Das “Taschenbuch Schweizer Armee”
Offenbar als Wiederbeginn haben ab 1980 damals noch aktive oder ausgemusterte Milizoffiziere ein „Taschenbuch Schweizer Armee“ im Rahmen einer Schriftenreihe „Gesamtverteidigung und Armee“ herausgegeben. Aber eigentlich erscheine es seit über 120 Jahren als „bewährter Klassiker und sicherer Wert“, wird noch 2006 ausgeführt. In den Vorwörtern wird oft darauf hingewiesen, dass diese Publikation insbesondere dazu dient, „einem langsamen, kaum merklichen Entwicklungsrythmus zu folgen“, also bereits der Hinweis auf eine schon immer dagewesene WEA.
Herausgeber war stets ein Milizoffizier und unterstützt wurde er vom (Miliz-) Truppen Informationsdienst (TID). Die KML (Kommission für militärische Landesverteidigung) liess es sich angelegen sein lassen, dieses Podium auch für Verlautbarungen grundsätzlicher Art zu benutzen. Ab der Armee 95 mochte sich diese Personengruppe allerdings nur mehr selten für ein entsprechendes Vorwort hergeben. Die letzten Ausgaben bis 2006 wurden jeweils vom CdA allein eingeleitet.
Bis zur Ausgabe 2006 folgten diese Taschenbücher stets einem einheitlichen Aufbau. Wer damit umzugehen wusste, konnte praktische alle Internas, Zahlen und Entwicklungen über der Zeitachse herausfinden, die von Bedeutung sind, offenbar auch zu viele Internas, wie man ab dem Jahre 2006 in „Bern“ folgerte. Denn ab diesem Jahre entzog das VBS dem Huberverlag Frauenfeld das Mandat und versuchte die Publikation selber zu bewerkstelligen. Dies gelang offensichtlich nicht. Verspätet musste der Huberverlag nochmals um Mithilfe gebeten werden. Die nächste Ausgabe erschien nur noch als Zweijahreskompendium 2007/08, die letzte schliesslich noch als „Schweizer Armee“ im Jahre 2009 und seither nicht mehr. Damit ist einer Orientierung über die militärische Landesverteidigung für Aussenstehende nicht mehr möglich. Hoffentlich geht es internen Stellen besser.
Das Bundesarchiv
Schon bei der Abfassung des Buches “Erinnerungen an die Armee 61 – eine zeitgeschichtliche Dokumentation” (Huber Verlag Frauenfeld, erscheint demnächst in zweiter Auflage) stellten verschiedene Autoren fest, dass im Bundesarchiv die früher dort gelagerten Bestände grosse Lücken aufzuweisen begannen. Für die Rekonstruktion der Armeeaufstellung “ZEUS” und des zugehörigen Grunddispositivs auf LK 1: 300‘000 mussten erhebliche Umwege in Kauf genommen werden, obwohl alle weitgehend “Geheim”-klassifizierten Befehle der Grossen Verbände eigentlich mit dem Übergang in die Armee 95 hätten dem Bundesarchiv zugeleitet werden müssen. Der Verfasser, Div aD Vincenz schilderte, dass gewisse wichtige Dokumente nur noch rekonstruiert konnten, weil sie sich noch in privaten Bürokisten, und damit wiederrechtlich gelagert, auffinden liessen.
Zum Bundesarchiv äusserte sich die “Neue Zürcher Zeitung” (“Archivzugang mit Hindernissen”, S. 7) am 18. Juli 2014 wie folgt:

“Häufiger als einst sind Bestände im Bundesarchiv ganz gesperrt oder nur mit Auflagen zugänglich. Treiber dieser Entwicklung könnte auch ein Kulturwandel in der Verwaltung sein.”
Und: “Ins Auge sticht das Verteidigungsdepartement. Seit dem Jahreswechsel 2013/14 ist die sogenannte zentrale Ablage des Departements ab Ende der 1950-er Jahre nur noch auf Gesuch zugänglich und damit der weitaus grösste Teil der Dokumente die ab damals erstellt worden sind”.

Dieser Umstand fiel auch Frau Nationalrätin Silva Semadeni auf und sie stellte dem Bundesrat am 10.09.2014 entsprechende Fragen (Frage Nr.:14.5369). Die Antwort fiel, wie häufig, oberflächlich aus. Es scheint, dass sich Eidg. Räte gewöhnt sind einfach abgespeist zu werden. In der Antwort findet sich aber dennoch ein interessanter Freudscher Versprecher: Der Bundesrat antwortet nämlich, dass die Abschaffung des Online-Nachweises des gesamten Kataloges des Bundesarchives, der ab diesem Jahr verfügbar sei, “Verwundbarkeiten geschaffen” habe. Hätte er geschrieben, dass für das VBS bestimmte Geheimhaltungen eingehalten werden müssten, so hätte man dies zur Kenntnis nehmen können. Die gewählte Formulierung weist aber darauf hin, dass Fakten aufgedeckt werden könnten, die auf verwundbare (ungesetzliche?) Stellen oder Personen hinweisen.
Es wird interessieren, welche weitere Zensurmassnahme das VBS beschliesst, wenn es gelegentlich gewahr wird, dass beharrliche Beobachter dennoch Erstaunliches recherchieren können. Vielleicht muss dann ein “Ministry for Homeland Security” analog den USA geschaffen werden (zu Deutsch: “Ministerium für Staatssicherheit“).
Die Armeeplanung
Die Armeeplanung ZEUS war die vorläufig letzte ihrer Art. Im seinem Bericht zum Aktivdienst beklagte sich General Guisan 1945, dass er bei Kommandoübernahme keinerlei Aufmarschplanung und auch keine Kampfplanung vorfand. Diese Planungen sind in der Folge mit grosser Ernsthaftigkeit auch über das Kriegsende hinaus bis ins Jahr 1992 erfolgt. Zuletzt zuständig war KKdt Heinz Häsler, und sein damaliger Unterstabschef Front, Divisionär Carlo Vinzenz. Häsler war also noch der letzte GSC, der seine Aufgaben entsprechend wahrnahm. Inzwischen sind also mehr als 30 Jahre vergangen. An einen möglichen Ernstfall denkt offenbar niemand mehr und wenn ja, wird jeweils hastig ein neuerlicher Umbau angekündigt und der Armee die rote Etikette “Vorübergehend nicht einsetzbar” angehängt.
Bücher
Buchreihe “Der Schweizerische Generalstab / L’Etat-major général suisse”
Auch für Nicht- Historiker ist diese Buchreihe eine Fundgrube erster Güte für Angaben und Hintergrundinformationen über unser Wehrwesen und dessen Soziologie. Erstklassige Forscher haben ihre Beiträge darin abgelegt. Namen wie Rapold, Senn, Jaun, Guisolan, Fuhrer etc. werden als Autoren genannt. Allerdings endet dieses hervorragende Werk mit dem Band XI und dem Jahre 1966. Eine Fortsetzung mindestens bis zum Ende des Ersten Kalten Krieges ist nicht geplant. Die Phase des Absturzes unserer Armee wird also bis auf Weiteres nicht aufgearbeitet.Der letzte Verlag, Hier & Jetzt in Baden, hatte sich stets bemüht, eine hervorragende Ausstattung mitzuliefern.
Könnte es sein, dass eine Gruppe von Lehrstuhlinhabern beschlossen hat, die Befassung mit der Geschichte des Schweizerischen Wehrwesens sei karriereschädigend und im Übrigen sei ja mit den 20‘000 Seiten des „Bergierberichtes“ die wesentliche Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert genügend abgerundet? Könnte es sein, dass der Umbau der Seele der Schweiz in eine angepasste Mitteleuropäische vor dem „Final Countdown“ als abgeschlossen zu betrachten sei?
Sollte sich dennoch ein Bedürfnis für eine Gedächtnisauffrischung einstellen, so könnten sicher folgende Bücher hilfreich sein:

 

Kommentare: 3

  1. Willy Stucky sagt:

    Genauso ist es. Seit Jahrzehnten versuchen die tonangebenden Kreise insbesondere an unseren Hochschulen die Schweiz als etwas Geschichtslos-Böses einerseits und andererseits als eine segensreiche Vision für die ganze Menschheit darzustellen. Diese Mischung aus Moralismus und intellektueller Selbstüberschätzung, die nur möglich ist, weil Fakten bewusst unterschlagen werden, hat zur nun konstatierten Orientierungslosigkeit in der Sicherheitspolitik geführt. Im internationalen Ranking kommen unsere Geisteswissenschaftler allerdings schlecht weg – mal abgesehen von der feudalen Entlöhnung, welche in einem seltsamen Widerspruch zur wenig überzeugenden Leistung unserer Professorinnen und Professoren im Reich der Geisteswissenschaften steht.
    Die Sonderausstellung zum Ersten Weltkrieg, die zurzeit im Landesmuseum zu sehen ist, blende die schweizerische Grenzbesetzung praktisch aus, wie ich erfuhr. Ich werde mir diese Sonderschau nicht antun, weil ich meine Nerven schonen möchte. Dafür werde einmal mehr auf das Problem einer zu grossen Deutschfreundlichkeit gewisser Deutschschweizer Damen und Herren – unter anderen eines Herrn Blocher – fokussiert.
    Mein Grossvater, der keineswegs deutschfreundlich war und der als Oberstleutnant im Pruntruter Zipfel gedient hatte, hat folglich gar nicht existiert, denn was eine solche Ausstellung suggeriert, ist der Umstand, dass die gesamte Deutschschweiz schon während des Ersten Weltkrieges die gesamte Romandie verachtet habe und dass schon damals die Armee keine nennenswerte Rolle gespielt habe hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit der Schweiz.

  2. Walter G u l e r sagt:

    Herr Willi Stucki,
    Machen Sie sich die Mühe den Roman «Schweizerspiegel» von Meinrad Inglin zu lesen. Es sind zwei Bände, aber die lesen sich mit zunehmenden Seitenzahlen immer spannender.
    So können Sie sich Ihnen Besuch im Landesmuseum sparen, aber brauchen etwas mehr Zeit für das Buch
    Meinrad Inglin hat in der Form eines grossangelegten Familienromans die Geschichte der Schweizer Neutralität im Ersten Weltkrieg geschrieben.
    Im «Schweizerspiegel», der, darin dem grossen Vorbild Gottfried Kellers getreu, episches Kunstwerk und zugleich bedeutendes politisches Dokument ist, gibt er einen Rückblick auf das historische Geschehen der Jahre 1912 bis 1918 und einen Querschnitt durch den gesamten geistigen und seelischen Zustand des Schweizer Bürgertums. Das Oberhaupt der Familie, Nationalrat Ammann, ist der Typus einer zu Ende gehenden Epoche. In seinen drei Söhnen spiegeln sich die Tendenzen der Zeit. Während Severin und Paul nach extremen politischen Richtungen auseinanderstreben, bezeichnet Fred, der jüngste der Brüder, der mehr und mehr zum Mittelpunkt des Romans wird, ungefähr die mittlere Erlebnislinie; seine Haltung beruht auf einer schlichten Natürlichkeit und ursprünglichen Heimatliebe.
    Meinrad Inglin
    Schweizerspiegel
    904 Seiten, Leinen sFr.48.–
    ISBN 978-3-85791-744-8
    Mit besten Grüssen
    Walter G u l e r

  3. Willy Stucky sagt:

    Sehr geehrter Herr Guler
    Dies ist zwar kein persönliches Forum, aber ich antworte Ihnen trotzdem hier. Da wir ja nichts voneinander wissen, können Sie auch nicht wissen, dass ich die Geisteswissenschaften mit Schwerpunkt Philosophie und deutsche Literatur von Innen kenne. Dies muss Ihnen überhaupt nicht peinlich sein, denn was Sie auf diesem Forum eben geschrieben haben, könnte auf das einschlägige Cover einer preisgünstigen mehrbändigen Inglin-Ausgabe gedruckt werden. Heute sagt man ja Cover, schliesslich will man zeigen, dass man immer noch ein bisschen mithalten kann.
    Doch eben: Wer liest schon Inglin?! Wer bemüht sich schon noch um die Substanz der Schweiz?! Er würde ja als Hurrapatriot verschrien. Dass es die schweizerische Armee in diesem Kontext schwer hat, ist folglich nur logisch, denn zur Verteidigung der modischen Swissness ist sie denkbar ungeeignet. Ja, sogar das viel beschworene Erfolgsmodell Schweiz ist leider kein zureichender Grund, der Armee endlich mehr Mittel zur Verfügung zu stellen.

Kommentare sind geschlossen.