Kontroverse um die Kampfwertsteigerung des Tiger
Konrad Alder hat im „Schweizer Soldat“ Nr. 09 /14 einen Artikel veröffentlicht, der davon abrät, die Wiedererlangung der Kampfkraft der Luftwaffe über eine Kampfwertsteigerung des Tigers zu versuchen. Leider könnten die nur sehr oberflächlichen Informationen, die aus „Bern“ nach aussen dringen, zu einer solchen Auffassung führen. Dazu folgende Bemerkungen, die ich mir als „Tigermann der ersten Stunde“ erlaube:
Der Kauf von 110 Flugzeugen Tiger vor ca. 40 Jahren war keine Lösung des armen Mannes sondern verfolgte eine kluge Luftkampfstrategie. Natürlich hätte man damals bereits den F-16 kaufen können, aber Luftkampferfahrungen der Israelis zeigten auf, dass im damals üblichen Dogfight, d.h. Luftkampf auf Sichtdistanz, zwei Flugzeuge Tiger, bei der Anwendung einer bestimmten Taktik einen an sich überlegenen Gegner, z.B. einen F-16, erfolgreich bekämpfen können. Deshalb meinte der spätere Kommandant der Luftwaffe Moll, dass man auf Quantität statt auf Qualität setzen wolle (Sättigung des Kampfraumes). Ein mutiger Entscheid, der sich später auch während einer gewissen Zeit als richtig heraus stellte.
Dass zwischenzeitlich die Kampfkraft der Luftwaffe fast total abgebaut wurde und der Auftrag im Rahmen der Bundesverfassung schon lange nicht mehr erfüllt werden kann, zeigt die nachfolgende, sehr junge graphische Darstellung (Kdt LW 2002):
Das heisst, es geht gar nicht mehr darum, der LW die Weitererfüllung ihres Auftrages zu ermöglichen, sondern den Totalabsturz zu verhindern. Der Auftrag wurde während der Gripenkampagne auf den Luftpolizeidienst kleingeredet und heute begnügt sich die Diskussion bereits mit diesem Zustand. Obige Graphik zeigt, was nur schon mit einem, dem vordergründig wichtigsten, aber keineswegs allein entscheidenden Element der Luftkriegsführung geschah, dem Flottenbestand (= Waffenträger + Bewaffnung). Andere wichtige Elemente sind:
- Überlebensfähigkeit am Boden (BODLUV, Logistik, Anzahl Flugplätze etc.)
- Pilotenbestand und -Ausbildung
- Führungseinrichtungen
Wenn nur eines dieser Elemente ausfällt, sind die übrigen wirkungslos. Die Überlebensfähigkeit am Boden ist im Kriegsfall praktisch nicht mehr gegeben. Eine Allwettertauglichkeit der Flugzeuge nützt nichts, wenn diese zufolge verschneiter Pisten und Rollstrassen nicht zum Einsatz gelangen können. Man glaube nur ja nicht, die Räumung einer verschneiten Piste sei eine Frage von Stunden, sie ist unter Umständen eine solche von Tagen (wurde früher periodisch geübt!). Nach oben schutzlose Flugplätze, wie sie sich heute darstellen, überleben ebenfalls kaum die ersten Kriegsstunden. Krieg ist immer noch die gefährlichste Möglichkeit und Richtschnur für jegliche Armeeplanung.
Das Pilotenkorps ist dramatisch zusammengeschrumpft. Nach dem Gripen-Nein hat ein Exodus an Piloten eingesetzt. Der frühere Entscheid nur noch Berufspiloten auszubilden, war fatal. Niemand gibt die genaue Anzahl noch aktiver Berufspiloten bekannt, mehr als 50 werden es nicht sein. Man kann sie aus der Kontroverse herleiten, als es zu Beginn des Jahres 2013 um das Flugstundenbudget für Piloten ging und man die nötige Flugstundenzahl einsetzt, die ein Pilot jährlich braucht, um nicht gefährlich zu werden. Wenn diese aus dem Bundesdienst ausscheiden, können sie noch eine Weile weiterfliegen, aber die Anzahl dieser unechten „Milizpiloten“ dürfte auch nicht viel höher sein (von den Helipiloten einmal abgesehen). Wenn der Gripen beschlossen worden wäre, wäre dieser Punkt als nächste Schwachstelle aufgeschienen.
Eine kluge Einsatzkonzeption einer Luftwaffe, die kämpfen kann, benötigt viel mehr Flugplätze, als sie heute noch vorhanden sind. Einige könnten gegen grossen Wiederstand der Bevölkerung wieder reaktiviert werden, andere sind definitiv unbrauchbargemacht worden. Das Material für sogenannte „Notlandepisten“ auf Autobahnen ist abgebaut (wenn nicht sogar vernichtet) worden, geübt wurden dieser sinnvolle Einsatzart auch nie mehr.
Also: Die Luftwaffe muss neu aufgebaut werden, um ihren Auftrag wieder erfüllen zu können. Axalp-Demonstrationen, Air14 oder Patrouille Suisse genügen nicht.
Eine Kampfwertsteigerung irgendwelcher Art ist kein fliegerisches sondern ein technisches Problem. Nur weil der Tiger aus unbekannten Gründen während der Gripen-Kampagne schlechtgeredet wurde, heisst das noch lange nicht, dass er es auch ist. Man vergesse nicht, dass selbst der F/A-18 seinen Erstflug schon vor 35 Jahren hatte, etc. Strukturmässig kann das Flugzeug noch verjüngt werden, obwohl die Schweizer Tiger erst ca. einen Drittel der Flugstunden akkumuliert haben als diejenigen anderer Luftwaffen. Bezüglich Lebensdauer-Vorrat ist er noch lange nicht am Ende! 1973 ist der damalige Kommandant der Luftwaffe KKdt Studer nach dem Corsair-Nullentscheid zurückgetreten, weil er nicht „Museumswärter“ sein wollte. Die beschaffte Ersatzlösung, die zweite Serie Hunter, hat nachher noch länger als 20 Jahre als Schlachtrösser im Erdkampf Dienst getan und ist mit dem Hunterprogramm 80 wesentlich aufgewertet worden. Er war bei der Ausserdienststellung 1994 noch nicht an seinem strukturellen Lebensende angelangt. Auch die Mirages sind später aus nicht nachvollziehbaren Gründen vorzeitig ausgemustert worden.
In den USA ist derzeit eine Kontroverse im Kongress im Gange um den Weiterbetrieb eines ähnlich legendären Schlachtrosses, des A-10, nachdem nachgewiesen wurde, dass die Airforce Zahlen gefälscht hatte (Quelle „Early Bird“) um sich davon trennen zu können. Am künftigen Himmel werden kaum die F-22 oder F-35 oder T-50 den Standard setzen sondern andere Flugzeuge (F-16, Eurofighter, Su-27, die alte Tante Mig-29 etc.). Flugzeuge der neueren Generation haben eine viel längere Nutzungsdauer als ursprünglich vorgesehen. Auch das voreilig prognostizierte Lebensende des F/A-18 (2025) basiert nicht auf Daten, die durch die Ermüdungsforschung an der Struktur abgesichert sind. Der F/A-18 wird noch mindestens bis 2040 im Einsatz bleiben können, sofern er nicht vorher politisch ausgemustert wird.
Giardino hat dank eines fleissigen Mitglieds eine umfangreiche Studie ausführt, die Erstaunliches zutage förderte. Diese Unterlagen würden Herrn Alder auch zur Verfügung stehen, aus „Bern“ sind sie kaum erhältlich. Aus diesem Datenpaket zitiert die Presse in letzter Zeit gelegentlich, aber häufig unvollständig. Es gibt mindestens 4 Anbieter von Tiger Upgrade-Programmen. Israel ist nur einer davon. Die Möglichkeiten, aus dem Tiger noch für mindestens 20 Jahren ein gutes Frontflugzeug zu machen sind gross. Bezüglich Avionik und Bewaffnung bleiben keine Wünsche offen. Die modernen Radarsysteme erlauben eine wesentlich grössere Einsatzdistanz als heute, wirkliche Allwettertauglichkeit ist kein Problem, es sei denn man würde die übrigen Systemelemente (siehe oben) auch weiterhin vernachlässigen.
In Kenntnis dieser Möglichkeiten hat sich die Armasuisse darauf festgelegt, die Kosten künstlich hoch zu stilisieren, damit nicht die Fallmasche Tiger-Upgrade einen ganzen Rattenschwanz zusätzlicher und mutwillig aufgerissener Löcher zutage fördert: Piloten, Flugplätze, BODLUV, Logistik, Ersatzteile etc.. An Ersatzteilen ist seinerzeit eine Übermenge beschafft worden, sodass Northrop den technischen Projektleiter Oberst i Gst Mühlheim (später Brigadier) einmal fragte „wollt ihr eigentlich Flugzeuge oder ein Ersatzteil-Warenhaus kaufen?“ Es ist allerdings zu vermuten, dass die raren und gefragten schweizerischen Ersatzteile bereits mit der ersten Tranche von 44 Flugzeugen an die USA zurückverkauft worden sind, sodass solche nun tatsächlich fehlen.
Die 2011 durchgeführten Abklärungen, deren Resultate durchgesickert sind, zeigen, dass keine Konkurrenzofferten verarbeitet wurden. Jene Zahlen führten tatsächlich zum Schluss, dass eine Kampfwertsteigerung unsinnig wäre, wenn sie denn gestimmt hätten. Es kann ruhig vermutet werden, dass die verbleibenden Tiger für einen Betrag entscheidend unter einer halben Milliarde CHF optimal kampfwertgesteigert werden könnten. Dafür müssten aber die Fähigkeiten vorhanden sein, solche Offerten richtig einzuholen und auszuwerten, was nach den mühsamen Gripen-Verhandlungen eher nicht der Fall sein dürfte. Die Verschrottung der M-113 lässt grüssen!
Der politische Wille, einen Ersatz für den Gripen zu evaluieren, dürfte kaum mehr vorhanden sein. Der F/A-18 wird nicht mehr produziert, Occasionen will man nicht, andere vergleichbare Typen sind nicht verfügbar (von Rafale und Typhoon einmal abgesehen) und Flugzeuge wie F-22 oder F-35 sind so exorbitant teuer, dass deren Zukunft auch innerhalb der NATO ungewiss ist. Abgesehen davon, dass ein normales Evaluationsverfahren in der Schweiz so viele Jahre dauert, die man nicht mehr hat, sofern man die Luftwaffe nicht ganz einschlafen lassen will.
Sofern man endlich wieder auf die kostengünstigere Variante Milizpiloten, die gleich kriegstauglich sind (Giardino Buch S. 144), zurückgreifen will, könnte das unterschwellig schwärende Pilotenproblem in vielleicht 10 Jahren gelöst werden, aber eben: Der Wille dazu müsste vorhanden sein. Sofern man aber mit der Fehlplanung für fliegendes Personal gleich weiter fahren will, wie bis jetzt, kommt tatsächlich nur noch die Auslagerung der Luftverteidigung an die NATO in Frage, wie es gerüchteweise in „Bern“ bereits heisst. Man notiere: Gerüchte sind meistens wahr.
Zur Erinnerung: In Kriegszeiten, die uns vielleicht bevorstehen, wird der Import von schwerem Gerät nahezu unmöglich (Panzer, Flugzeuge etc.). Deshalb hat man in der Schweiz während dem Kalten Krieg eine sehr leistungsfähige Rüstungsindustrie aufgebaut und beispielsweise nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Piloten auf Teufel komm raus ausgebildet, obwohl diesen noch lange keine kriegstauglichen Flugzeuge zur Verfügung gestellt werden konnten. Deshalb war eines der Argumente der Gripen-Befürworter auch: Kaufen was man bekommen kann!