“Milizarmee” – Auf der Suche nach einer Definition
Immer wieder wird die Frage an die GGstOf getragen, wieso wir uns speziell um das Thema der “Miliz” kümmere und ob damit nicht die Berufsoffiziere thematisch benachteiligt würden. Implizit werden damit Milizoffiziere und Berufsoffiziere gegeneinander als konkurrenzierende Modelle ausgespielt. Das ist falsch und wird auch von der GGstOf so nicht vertreten. Beide Gruppen gehören zu einer funktionierenden Milizarmee und leisten ihren Beitrag. Uns geht es vielmehr um das in unserer Verfassung verankerte “Milizprinzip”: Die Bundesverfassung schreibt in Artikel 58, Absatz 1 zur Armee vor:
“Die Schweiz hat eine Armee. Diese ist grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert.”
Nun stellt sich die Frage: Wird diesem Grundsatz nachgelebt oder haben wir uns vom “Milizprinzip” verabschiedet oder zumindest entfernt? Was ist das Wesen einer “Milizarmee”?
Der erste Griff zur Beantwortung einer Frage führt heute meist zu Wikipedia, wo wir folgende Zeilen zur Milizarmee finden:
“Als Milizarmee oder Volksheer werden Streitkräfte oder Teile von Streitkräften bezeichnet, die zum größten Teil oder vollständig erst im Bedarfsfall aus Wehrpflichtigen aufgestellt werden. Milizarmeen haben im Frieden meist nur sehr schwache Stäbe aus Rahmen- und Ausbildungspersonal. Ihr Material wird in Depots gelagert. Die Miliz steht somit im Gegensatz zu Stehenden Streitkräften, die bereits im Frieden personell und materiell stark präsent sind. Ein Milizangehöriger wird Milizionär oder Milizsoldat genannt. Das klassische Beispiel eines Milizheeres ist die Schweizer Armee.”
“[W]ährend Großmächte oft anstreben, Streitkräfte als ein möglichst vielseitig verwendbares machtpolitisches Instrument zu schaffen, auch geeignet für Abenteuer und Angriffskriege, ist die Militärpolitik vieler kleinerer Staaten defensiv/reaktiv und von Sparsamkeit diktiert. Man will das Zivilleben von Belastungen durch den Militärdienst möglichst freihalten. Ebenso kann Fehlentwicklungen wie Militarismus oder der Bildung eines Militärs als Staat im Staate durch eine Milizkonzeption vorgebeugt werden.”
Definition/Quelle: Wikipedia.org
Als nächstes hätte ich gerne aus dem Sipol B und dem Armeebericht zitiert, doch in diesen beiden Dokumenten findet sich keine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Begriff “Milizarmee”.
Wo und wann hat aber die Armeeführung (oder sogar Parlament und Bundesrat) das Wesen der Milizarmee und des Milizsystems genauer definiert und umschrieben? Oder wäre dies Teil der Doktrin? Selbst im Reglement “Begriffe Führungsreglemente der Armee” gibt es zum Stichwort “Miliz” 0 (null) Treffer.
Man spricht in den beiden Dokumenten zwar von “Modernisierung des Milizsystems” (Sipol B, S. 45), doch wo steht man heute und wohin will man? Welches ist das Ziel? Geht es darum, Leistungen der Miliz zu zertifizieren, wenn man das System stärken und modernisieren will? Krankt wirklich das Milizsystem?
Oft wird bereits die Ausgangsfrage falsch gestellt (“Was wollen wir mit der Miliz?”) – entlarvend! Im Sipol B will man die Miliz als Mittel zur Erhöhung der Durchhaltefähigkeit von Profiverbänden einsetzen (“Hingegen kann bei hohem Milizanteil die Durchhaltefähigkeit der Einsatzleistung gewährleistet werden.” – Sipol B, S 43). Im Armeebericht wird diese Auffassung wiederholt (“Die Milizformationen dienen dazu, lage- und situationsgerecht Schwergewichte zu bilden und die Durchhaltefähigkeit der Berufsorganisation [sic!] zu erhöhen.” – Armeebericht, S. 62). Hier wird die “Milizarmee” einer personellen “Reserve” gleichgestellt. Schauen wir also, wie die “Reserve” definiert ist:
“Reserve: Truppen oder Mittel, die der militärische oder zivile Führer in seiner Hand behält, um die Handlungsfreiheit wahren zu können und / oder die Entscheidung herbeizuführen.”
Quelle: Begriffe Führungsreglemente der Armee, S. 35
Und aus wikipedia entnehmen wir:
“Es gibt auch Streitkräfte, die aufgrund ihrer Verteidigungsdoktrin in ihrer Gesamtheit als territoriale Verteidigungsstreitkräfte einzuordnen sind, d. h., dass das gesamte Staatsgebiet als strategisches Mittel zur Aufrechterhaltung der staatlichen Souveränität genutzt wird. Solche Armeen bestehen oft zum größten Teil aus Reservisten, so z. B. die Schweizer Armee. [sic?!]
[…] In letzter Zeit kristallisiert sich eine weitere Rolle von Reservisten in modernen Streitkräften immer stärker heraus: das Beisteuern wichtiger (im Zivilleben erworbener) Kenntnisse und Fähigkeiten zu den regulären Streitkräften. Die Aufgabe und Funktion des einzelnen Reservisten in den Streitkräften ist dabei eng an seine zivile Ausbildung und seinen zivilen Beruf angelehnt.”
Quelle: wikipedia.org
Ich mag mich täuschen, aber sind “Reserve” und “Milizarmee” nicht zwei völlig unterschiedliche Dinge? Wieso spricht man dann in den offiziellen Dokumenten diesen Unterschied nie an und vermischt (generalstäblich völlig unpräzis) die beiden Begriffe? Wohl doch nicht etwa absichtlich, oder?
Damit stellen sich einige grundsätzliche Fragen:
- Worin besteht das Wesen der Schweizer Milizarmee?
- Wird dem Grundsatz der Milizarmee genügend nachgelebt?
- Laufen wir Gefahr, die Rolle unserer Milizarmee falsch zu verstehen (nämlich als Reserve)? Oder verwenden wir die Begriffe mit Absicht synonym?
- Fehlt nicht am Anfang der gesamten Armee-Diskussion eine fundamentale Beurteilung der Lage mit einer vertieften Auseinandersetzung des Faktors “Eigene Mittel”?
- Die zu beantwortende Frage müsste lauten: “Wozu ist (ausschliesslich) die Milizarmee fähig, wie setzen wir sie richtig ein, bzw. welche Rahmenbedingungen sind dazu notwendig?“
Mit diesen Fragen wollen wir eine Diskussion anstossen und ermuntere alle, ihre Antworten auf obige Fragen bzw. ihre Ideen über das Wesen der Schweizer Milizarmee als Kommentar hier anzufügen. Wir freuen uns auf eine Diskussion voller unterschiedlicher Argumente.
4 Kommentar(e):
- Hans-Jacob Heitz:
29 May 2012
Nachdem ich mich wiederholt für die Anliegen der Berufsoffiziere einsetzte, müsste unverdächtig sein, wenn ich in grundsätzlicher Hinsicht feststelle, dass es heute nicht um die Frage bzw. die Gefahr des gegeneinander Ausspielens von Miliz- gegen Berufsoffizieren gehen kann, denn wir haben heute, was die Statistiken “brutal” aufzeigen, einen eklatanten Mangel an genügend Milizoffizieren für das Gst Korps!
Wird das Gst Korps nur noch durch Berufoffiziere (dazu sind auch Offiziere aus den Bundesdepartementen zu zählen) gestellt, sind wir faktisch nicht mehr weit entfernt von einer Berufsarmee, was ebenso verhängnisvoll wie verfassungswidrig wäre! - Christoph Grossmann:
30 May 2012
Versteht man den Milizgrundsatz der Armee als staatspolitische Maxime struktureller Defensivität und der Rückdelegation der Verantwortung für staatliche Gewaltanwendung in ausserordentlichen Lagen an den im zivilen Leben geerdeten Souverän (Frage 1), sind Milizgrundsatz und Wehrpflicht voneinander unabhängige Prinzipien und alle weiteren Fragen müssen mit ja beantwortet werden. Aber offenbar stört das viele Verantworliche nicht. - Dieter Wicki:
30 May 2012
… entspricht Wikipedia den Grundsätzen generalstäblicher Präzision? Wieso sollte ein Reglement eine Verfassungsbestimmung klären? Ad rem: http://www.vpb.admin.ch/deutsch/doc/65/65.38.html#_number1 (das ist sogar über Google zu finden …) - Leander Gabathuler:
30 May 2012
Ich denke es ist an der Zeit, die Grundsatzfrage zu stellen: Unsere Armee muss für die Sicherheit des Landes aufkommen – ist dies mit der heutigen Armee und dem heutigen (Miliz)-System noch möglich / wird der Verfassungsauftrag “Landesverteidigung” überhaupt noch erfüllt? Wäre es rein theoretisch möglich? Gäbe es nicht andere, effektivere Dienstsysteme? Gegen was wollen wir uns überhaupt noch schützen (Debatte über die nun abgeschaffte Festungsartillerie oder Kampfjets)?
Ich persönlich bin als Mitglied der JSVP eher armeefreundlich eingestellt, doch ich habe Zweifel an der Kompetenz der heutigen Armee – auch weil die Politik ihr immer mehr Mittel entzieht und von Medien und Linken jede Gelegenheit dazu genutzt wird, die Armee in den Dreck zu ziehen. Wir sollten uns also fragen, ob wir mit unserer heutigen Taktik auf dem richtigen Weg sind und wenn ja, wie wir (Politik, Stimmbürger, Wehrdienstpflichtige, (Berufs)Offiziere, usw.) unsere Armee wieder zu einer schlagkräftigen, verlässlichen und angesehener Institution aufbauen können.