Ein (erster) Blick in die Geschichte (aber nicht nur)

Ein (erster) Blick in die Geschichte (aber nicht nur)

Die Französische Revolution 1789 und das Ende des Kalten Krieges zweihundert Jahre später krempelten nicht nur die Machtverhältnisse auf dem europäischen Kontinent gründlich um. Beide ereigneten sich für die Zeitgenossen praktisch völlig unerwartet, will heissen, kein Akteur konnte sich in irgendeiner Weise darauf vorbereiten. Wer hätte gedacht,  dass der Sturm auf die Bastille auch den Anfang vom Ende des Ancien Régime in der Schweiz einleutete?
Als der Kopf des französischen Königs vom Rumpf abgetrennt wurde, fand auch eine gut 300 jährige strategische Partnerschaft zwischen der französischen Krone und der Eidgenossenschaft ein Ende. Frankreich war bis dahin der ‘grosse Bruder’ gewesen, in dessem Schatten die alte Schweiz im Austausch gegen ihre ‘guten Solddienste’ die eigenen Verteidigungsanstrengungen auf tiefem Niveau halten konnte. Im Falle einer fremden Aggression hätte Frankreich gemäss den Kapitulationen den Eidgenossen mit Kanonen und Kavallerie beigestanden. Der wohlwollende Hegemon im Westen wandelte sich innert Jahren zum sendungsbewussten Aggressor. Erst recht hatte niemand damit gerechnet, dass die aus der Not entstandene ‘Levée en masse’ die stehenden Söldneraufgebote hinwegfegen würde.
Bekanntlich vermochte die Eidgenossenschaft sich nicht schnell genug auf diese neuen Verhältnisse einstellen. Dass unser Land aus den Gedanken der Revolution bzw. der Aufklärung wertvolle Impulse aufnahm, sei hier natürlich nicht verschwiegen. Diese Bilanz konnte aber erst viel später gezogen werden. Zuerst musste unser Land fremde Heere auf eigenem Boden erdulden – etwas, was man seit dem 15. Jahrhundert nicht mehr erlebt hatte. Und anstelle der mehr oder minder freiwilligen Solddienste mussten Schweizer in Napoleons Grande Armée nach Russland hineinmarschieren. Allzuviele kehrten nie mehr zurück. So viel Pech unser Land infolge der ‘strategischen Wende’ von 1789 hatte, so viel Glück hatte es mit derjenigen von 1989. Glück im Unglück hatte man auch 1940, als die Französische Armee an unserer Westflanke innert eines Monates durch Guderians Panzerdivisionen ‘ersetzt’ wurde… darauf möchte ich weiter unten zurückkommen.
Wir können auf einer abstrakten Ebene im Prinzip zwei Sicherheitsstrategien der Eidgenossenschaft ausmachen:

  • die Zeit, in der sie praktisch alle mit eigenen Soldaten bzw. Reisläufern/Söldnern belieferte (ca. vom Ende des 15. bis Ende des 18. Jhr.) und dafür von fremden Heeren verschont blieb.
  • Und seit dem Bundesstaat von 1848 die Zeit, in der sie niemanden mehr ihr militärisches Potential anerbot.

Nun war es gerade bei der ersten ‘Strategie’ keineswegs so, dass die Tagsatzung eines schönen Sonntags zusammentrat und sich voller weiser Voraussicht auf eine ‘Sicherheitsstrategie für die nächsten zwei-, dreihundert Jahre’ einigte.
Wenn wir heute davon reden, dass man “das Undenkbare denken müsse”, tragen wir damit den Erfahrungen unserer langen (Militär-)Geschichte Rechnung. Sie liefert uns keine fertigen Antworten für die Fragen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Sie lehrt uns nur, dass sich vieles unserem Einfluss entzieht und dass sich Machtverhältnisse sehr rasant umkehren können. Dies soll keine Anstiftung dazu sein, fatalistisch die Hände in den Schoss zu legen und die Zeit bis zur nächsten ‘strategischen Wende’ in vollen Zügen zu geniessen.
Ich will mit dieser historischen Revue einfach davor warnen, sich zu sehr auf die Suche nach der ‘richtigen’ Strategie/ Armee/ Aussenpolitik etc. zu versteifen. Wenn ich mir eine Lehre aus unserer Geschichte anmasse, dann die, dass ein kühler Kopf in Zeiten eines unerwarteten Umbruches ebenso wichtig ist wie durchdachte Planung für vorhersehbare Eventualfälle. Der schlimmstmögliche Fall war und bleibt für die Schweiz immer der, dass sie im entscheidenden Moment eben doch alleine dasteht. Wenn wir vor zu viel Kooperation mit anderen Staaten und Bündnissen warnen, dann nicht aus einem übersteuerten Selbstvertrauen heraus oder weil wir jedem potentiellen Partner nur das Schlimmste zutrauen. Unsere Vorsicht entspringt vielmehr der historischen Erfahrung, dass die Anlehnung an vermeintlich starke Partner immer zu Nachlässigkeit und mangelndem Selbstvertrauen führt. Was das konkret bedeutet, haben wir 1940 erlebt:
General Guisans historische Leistung bestand nicht in genialen militärischen Schachzügen, sondern darin, im entscheidenden Moment dem Land das nötige Selbstvertrauen geben zu haben. Ein Selbstvertrauen, dass sich nicht auf militärische Überlegenheit abstützte, sondern darauf, für eine Sache einzustehen, welche die eigenen Opfer rechtfertigt.
Der wahre Kern einer jeden Armeediskussion dreht sich deshalb nie nur um Kosten, Waffensysteme und Einsatzdoktrin, sondern darum, wofür man kämpfen will – und wofür nicht. Derzeit gibt es in unserem Land diejenigen, die sich im Glauben wiegen, wir werden nie mehr für unsere eigenen Werte einstehen müssen und sollten unsere begrenzten Mittel in den Dienst anderer stellen. Die andere Gruppe, zu der ich mich zähle, will unser begrenztes (militärisches) Potential im Land behalten. Die Armee XXI war ein Versuch, beide Lager zu bedienen, weil das politische System der Schweiz zwangsläufig zu Kompromisslösungen führt. (Vgl. dazu aber auch das ‘spin doctor’-Referat von Judith Barben) Dass die Politik der Armee diesen nicht bewältigbaren Spagat nicht nur zumutete, sondern ihr gleichzeitig weitere Mittel entzog, hat uns dahin geführt, wo wir heute stehen. In einem späteren Artikel will ich versuchen zu erklären, wie wir auch aus der heutigen Situation genug Selbstvertrauen für den Fall der Fälle schöpfen könnten.
Ich wünsche mir, dass diese kleine historische Revue die Leser weiter zum Nachdenken über das Undenkbare anregt!